Weisheit
Altenpflegehelfer darf sich nennen, wer einen 200- bis 400-stündigen Kurs absolviert hat. Diese Kurse werden oft vom Jobcenter vermittelt, denn die Nachfrage nach Altenpflegern ist riesig. Angeboten werden solche Kurse von der florierenden Arbeitslosenindustrie, sie kosten zwischen 450 und 1800 Euro. Die Qualität wird nicht überprüft. Der Staat zahlt.
Tatsächlich sind viele auf diese Art ausgebildete Pfleger oft erneut arbeitslos, denn auf dem Arbeitsmarkt fehlen hauptsächlich Pflegefachkräfte mit dreijähriger Ausbildung. Doch wer macht schon so eine Ausbildung, mit der Aussicht auf eine Arbeit mit harten Arbeitsbedingungen und magerem Verdienst? Pflegehelfer dagegen gibt es im Über-angebot, und das drückt die Löhne. Sie verdingen sich bei Leasingfirmen – immer in halben oder viertel Stellen mit kurzzeitigen, schnell kündbaren Verträgen. Durch den ständigen Wechsel von Häusern, Kollegen und zu pflegenden Bewohnern ist die Arbeit über Leasingfirmen besonders anstrengend.
Viele Pflegekräfte sind Zuwanderer aus Lateinamerika, Afrika, Asien und der ehemaligen Sowjetunion. Oft Menschen aus der sogenannten dritten Welt. Sie haben häufig den besseren Humor und die freundlicheren Umgangsformen; manchen gelingt es, eine wohltuende Ruhe zu verbreiten. Viele haben eine gute Ausbildung, die in Deutschland nicht anerkannt wird. Als Altenpfleger haben sie die Möglichkeit, legal Geld zu verdienen. Sie kommen hierher in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch sie geraten vom Regen in die Traufe: Pflegehelfer belegen die unterste Stufe in der Heim-Hierarchie.
Waldesruh
Zu dieser privaten Seniorenresidenz am waldigen Rande der Stadt brauche ich je eine Stunde Fahrzeit hin und zurück. Ich arbeite 6,5 Stunden, manchmal auch länger, wenn ich am Ende in aller Eile noch Patienten-Akten mit Kreuzen und Unterschriften fülle. Dazu kommt noch Umziehen vor und nach der Arbeit. Eine halbe Stunde Pause wird abge-rechnet, obwohl ich selten dazu komme; es werden also sechs Stunden bezahlt für bis zu neun Stunden, die ich mit der Arbeit verbringe. Der Stundenlohn beträgt 8,75 Euro brutto, 52 Euro am Tag abzüglich Fahrgeld: für neun Stunden Aufwand also 47 Euro. Macht 5,22 Euro brutto pro Stunde für eine anstrengende, stressige, dreckige, stinkige, Rückgrat quälende, kräftezehrende und überaus missachtete Arbeit.
Die »Residenz« hat ihre eigene Leasingfirma. So werden alle Pfleger vorerst als 400-Euro-Kräfte geprüft, bevor ihnen die Ehre einer Festanstellung angeboten wird. Wer als Springer arbeitet, wird besonders gern an Wochenenden eingesetzt, denn Springer bekommen laut Vertrag keinen Wochenend- und Nachtzuschlag.
In allen Pflegeeinrichtungen arbeiten die meisten Pflegekräfte in Dreiviertel-Stellen. Eine Vollzeitstelle wäre zu anstrengend, der Krankenstand dann zu hoch. Hilfskräfte verdienen zirka 1100 Euro netto, Fachkräfte 1500 Euro. Also übernehmen sie heimlich nebenher 400-Euro Jobs in einer Leasingfirma. Da bekommen Fachkräfte an einem Wochenende noch einmal 250 Euro steuerfrei, Hilfskräfte können es auf 120 Euro schaffen. In diesem Job wird man nicht alt: Die durchschnittliche Verweildauer im Altenpflegeberuf beträgt weniger als neun Jahre.
Abgesang
Bis 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen um rund fünfzig Prozent zunehmen. Den zu erwartenden Personalmangel in der Pflege beziffern Experten auf eine halbe Million Vollzeitstellen. Viele Mitarbeiter sind nervlich und körperlich am Ende, anstatt für die Mitarbeiter zu handeln, drehen angeblich christliche Häuser an den Daumenschrauben und verändern die Pausenzeiten in Blocks, die in der Realität nicht genutzt werden können. Abgesehen davon, sind die Pflegekassen spätestens 2014 zahlungsunfähig, wie uns eine Mitarbeiterin einer Abrechnungsstelle mitteilte.
Haus Lebensbaum/Pflegeheim Mitte
Nach dem Tod ihrer Mutter wollte sich unsere Autorin endlich stellen: dem Alter und dem Sterben. In ihrem halben Jahr als Pflegehelferin hat sie eine Welt erlebt, in der es Stress und Chaos, aber wenig Liebe gibt.
Frau Nisch* ist gewöhnungsbedürftig – mir, der Leasingkraft, will man sie ersparen. Aber dann kommt sie mir im Rollstuhl auf dem Flur entgegen, nur mit Schlüpfer und Hemd bekleidet, und drängt ins Freie. »Raus hier!«
»Aber Sie können doch so nicht raus. Es ist kalt draußen«, versuche ich die wütende Frau zu beruhigen.
»Du hast mir gar nichts zu sagen! Ich bin doch hier nicht im Gefängnis, ich kann raus, wann ich will!« Sie stößt mich zur Seite. Ich suche ihre Hose und laufe hinterher. »Weg, du olle Fotze. Ich kenne dich nicht. Ich lass mir doch von dir keine Hose anziehen!«
Schnell greife ich zum Hilfe-Telefon: »Geht grad nicht, bin beschäftigt, warte mal, komme gleich«, sagt die Kollegin gehetzt. »Halt sie auf jeden Fall auf, dass sie nicht auf die Straße fährt!«
Der Rollstuhl ist bereits im Aufzug auf dem Weg nach unten. Ich über die Treppe hinter-her. Frau Nisch fährt gerade hinaus durch die Tür. Ich stelle mich vor sie. Sie brüllt mich an, ich rufe wieder um Hilfe. Endlich kommt die Kollegin. Die wird von Frau Nisch akzeptiert und schafft es, die freiheitsbedürftige Alkoholikerin wieder auf ihr Zimmer zu bringen.
Das liegt im zweiten Stock: lange schmale Gänge, Bänke wie im Jobcenter, die Wände besprüht mit kitschigen Bildern, in jedem Stock ein anderes Motiv, damit die Insassen sich orientieren können. Rechts die Arbeitsräume: Aufenthalts- und Essraum, billige Möbel, Küche mit zu wenig Tassen und Besteck, Mitarbeiterklo, Raum für frische Wäsche, Fäkalienspüle. Links des Gangs die Zimmer der Bewohner: Bett, Schrank, Tisch, hohes Fenster, enges Duschbad mit Toilette. Karge Zellen.
Die Bewohner dieses Hauses sind Härteres gewohnt: Bänke, Brücken, U-Bahnhöfe. Früher haben sie sich Drogen gegen ihren Kummer selbst beschafft, jetzt bekommen sie die vom Arzt und der Pharmaindustrie gratis. Doch sie sind verzweifelt, haben Angst, wollen raus, bekommen nie genug von allem und wollen alle gleichzeitig bedient werden: Sie wollen aus dem Bett geholt, aufs Klo gesetzt werden, den Hintern gewaschen und die Zähne geputzt bekommen, sie wollen, dass man ihnen Zigaretten zuteilt, ihre Langeweile tötet, ihnen Windeln anlegt, sie ins Bett bringt.
Dafür bin ich da. Aber warum bin ich hier?
Als meine Mutter im Sterben lag, haben wir nicht viel darüber geredet, meine Mutter war nie sehr gesprächig. Oder war ich es, der die richtigen Worte fehlten? Habe ich ihr genügend Zeit geschenkt? Hätte ich mich mehr um sie kümmern müssen? Das schlechte Gewissen blieb und nagte.
Deshalb bewarb ich mich in Altersheimen, um dort eine Weile zu arbeiten und mich intensiv dem Sterben zu stellen. Voraussetzung für eine solche Arbeit ist ein 400-stündiger Kurs. Ich nahm den billigsten, heuerte anschließend bei einer Leasingfirma an. Und begann meine Reise durch die Pflegeheime.
Haus Diamant
Fünf Stockwerke, 42 Zimmer pro Stock, manche Zimmer sind doppelt belegt – ein Massenbetrieb. Ich habe Nachtdienst. Eine Kollegin übergibt mir eine Liste mit Namen, Zimmernummern und den Bedürfnissen der Bewohner und verabschiedet sich in den Feierabend. Ich bleibe allein auf dem Stockwerk.
Ich schiebe mich mit meinem Arbeitswagen, teils mit frischer Wäsche und Reinigungs-mitteln, teils mit Mülleimer und Schmutzwäschesack, durch die Flure, halte mich an dem Zettel fest und versuche, die vielen Bewohner dieser Etage zweimal in der Nacht trocken-zulegen. Ich kenne das Haus nicht, kenne die Bewohner nicht. Und in den Doppel-zimmern: Wer ist wer? Einige beschimpfen mich, andere wollen nicht geweckt und gewendet werden, manche sind freundlich, unterstützend und bedanken sich.
Eine dünne Alte klammert sich verzweifelt an meinen Arm: »Warum hat sie mich hier-hergebracht? Immer ist sie unterwegs. Was soll ich hier? Ich will hier nicht sein, in diesem schrecklichen Haus. Sie haben mich hierhin abgeschoben …«, stammelt sie und bedankt sich, weil ich mich ihr zuwende und zuhöre. Doch sie ist nicht allein im Raum, jetzt wacht die Zimmergefährtin auf. Und ich muss weiter.
Ein anderer Bewohner ist psychisch krank. Sobald ihn jemand berührt, brüllt er aus weit aufgerissenem Mund und versteift alle Glieder. Unmöglich, bei ihm allein die Einlagen zu wechseln. Ich suche einen freundlichen Kollegen aus einer anderen Etage. Wir machen einen Deal: Er hilft mir – ich helfe ihm bei zwei schwierigen Fällen. Der Kollege macht diese Arbeit bereits seit Jahren: jede Nacht zweimal fünfzig frische Windeln, Hintern abwischen im Akkord. Ich dagegen bin langsam und umständlich. »Du machst das wohl noch nicht so lange«, sagt er.
Nein, mache ich nicht. Ich rede mit den Leuten. Die Gespräche mit den Schlaflosen kosten mich Zeit. Ich bin vorsichtig, lasse einige schlafen, schaffe die zweite Runde nicht ganz. Am nächsten Tag geht eine Beschwerde ein: Zu viele Pflegefälle seien am Morgen nass gewesen.
*Namen aller Personen und Heime von der Redaktion geändert
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