Arthroskopie bei chronischer Kniegelenksarthrose ab 1. April nicht mehr für Kassenpatienten
Patient und Arzt kurzerhand für unmündig erklärt
Berlin/Neuss – Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat mit Zustimmung des Bundesministeriums für Gesundheit arthroskopische Verfahren zur Behandlung einer chronischen Arthrose des Kniegelenks (Gonarthrose) für Patienten der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen. Dies gilt sowohl für die ambulante als auch für die stationäre Versorgung. In „hochwertigen“ Studien seien keine wissenschaftlichen Belege für den Nutzen der vom G-BA geprüften arthroskopischen Verfahren zur Behandlung der Gonarthrose gefunden worden.
Im Einzelnen sind folgende Punkte betroffen:
– Gelenkspülung (Lavage, OPS-Kode 5-810.0h)
– Debridement (Entfernung krankhaften oder störenden Gewebes/Materials, OPSKode 5-810.2h)
– Eingriffe an der Synovialis, den Gelenkknorpeln und Menisken
– Entfernung freier Gelenkkörper, inkl.: Entfernung osteochondraler Fragmente (OPS-Kode 5-810.4h)
– Entfernung periartikulärer Verkalkungen (OPS-Kode 5-810.5h)
– Synovektomie, partiell (OPS-Kode 5-811.2h) o Synovektomie, total (OPS-Kode 5-811.3h)
– Exzision von erkranktem Gewebe am Gelenkknorpel (OPS-Kode 5-812.0h)
– Meniskusresektion, partiell, inkl.: Meniskusglättung (OPS-Kode 5-812.5)
– Meniskusresektion, total (OPS-Kode 5-812.6) o Knorpelglättung (Chondroplastik, OPS-Kode 5-812.eh) Unberührt davon sind solche arthroskopischen Eingriffe, die aufgrund von Traumen, einer akuten Gelenkblockade oder einer meniskusbezogenen Indikation, bei der die bestehende Gonarthrose lediglich als Begleiterkrankung anzusehen ist, durchgeführt werden, sofern die vorliegenden Symptome zuverlässig auf die genannten Veränderungen an der Synovialis, den Gelenkknorpeln und Menisken zurückzuführen und durch eine arthroskopische Intervention zu beeinflussen sind.
Die Streichung der Kassenleistung tritt am 1. April 2016 in Kraft.
Der Hergang dieser Leistungs-Streichung: Bereits am 20. Oktober 2010 hatte der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-SV) einen Antrag zur Bewertung der Arthroskopie des Kniegelenks bei Gonarthrose gemäß § 137c SGB V beim G-BA gestellt. Am 21. Juli 2011 wurde das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Recherche, Darstellung und Bewertung des aktuellen medizinischen Wissensstandes zur Arthroskopie des Kniegelenks bei Gonarthrose beauftragt und legte seinen Abschlussbericht der IQWiG am 14. März 2014 vor. (https://www.iqwig.de/download/N11-01_Arthroskopie-des-Kniegelenks-bei-Gonarthrose_Abschlussbericht.pdf)
Der Berufsverband für Arthroskopie (BVASK e.V.) nahm während des Verfahrens mehrfach umfangreich Stellung zu den entscheidenden Punkten. Unter anderem teilte er mit, dass er die Methodik des IQWIG, welche sich ausschließlich auf die Bewertung randomisierter Studien stützt, für unzureichend hält. Dies insbesondere vor dem Hintergrund der geringen Studienzahl und derer bereits mehrfach dargestellten zum Teil gravierenden methodischen Schwächen. Diese methodischen Schwächen werden im IQWIG-Bericht nicht ausreichend dargestellt. Hier wird lediglich das Verzerrungspotenzial berücksichtigt, welches in 10 der 11 eingeschlossenen Studien als hoch eingeschätzt wird.
Doch jegliche Stellungnahmen aller Wissenschaftler, Verbände und Organisationen werden vom G-BA abschließend lediglich erwähnt. Es wurde und wird, weder während des laufenden Verfahrens auf diese eingegangen, geschweige denn alles umfangreich diskutiert.
Dr. Ralf Müller-Rath, Vorstandsvorsitzender des BVASK: „Patient und Arzt werden kurzerhand für unmündig erklärt. Und das bei einer absolut mangelhaften Studienlage des IQWiG. Die Sichtweise des IQWIG widerspricht einer modernen, integrierenden Applikation von evidenzbasierter Medizin und wird der sehr komplexen Fragestellung in keiner Weise gerecht. Es ist aus unserer Sicht unerträglich, dass das IQWIG neben dieser methodisch fragwürdigen Beurteilung auch in öffentlichen Darstellungen bewusst einseitig gegen die Arthroskopie polemisiert.“
Dr. Emanuel Ingenhoven (Orthopädische Praxisklinik Neuss): „Es kann nicht sein, dass Operationen genauso bemessen werden, wie Arzneimittel. Dies alles soll einfach nur eine große Kostensparmaschine sein, ist aber nicht zuende gedacht. Erstens wird es am Ende mit mehr Gelenkersatz noch teurer. Und zweitens haben wir irgendwann, wenn alles auf diese unwissenschaftliche Art auf den Prüfstand kommt, unsere moderne Chirurgie komplett eliminiert. Es ist eben nicht möglich, über jedes Verfahren randomisierte Studien zu führen!“
Mit dem Beschluss des G-BA in diesem Fall ist man im Verband aber gar nicht so unglücklich. Auf der einen Seite kann bei gewisser Indikation ja weiterhin operiert werden, andererseits werden die Spezialisten hier von einem nicht kostendeckenden Eingriff befreit.
Doch viele Fragen, so Dr. Ingenhoven, bleiben im Falle der Gonarthrose noch ungeklärt:
Wer überprüft die Einhaltung der Ausnahmetatbestände und wie wird überprüft?
Drohen hier eventuell Regresse?
Sind jetzt die aufgeführten Eingriffe bei Gonarthrose ggf. als Privat-/Selbstzahler-Eingriff zu definieren? Wie wird die PKV hierauf reagieren?
Dr. Müller-Rath: „Immer wichtiger wird es jetzt für uns, sich aktiv in die Berufspolitik einzumischen. Denn es drohen noch viel wichtigere Verfahren: Meniskuschirurgie, Kreuzbandchirurgie, Rotatorenmanschettennaht. Auch in diesen Bereichen ist, wie im Großteil der orthopädischen Chirurgie, die Datenlage, welche unsere aktuell favorisierten OP-Techniken mit randomisierten Studien absichert, sehr dünn. Es ist zu erwarten, dass mit der Gründung des finanziell hervorragend ausgestatteten, neuen Institutes für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) eine zusätzliche Dynamik in diese Bereiche kommt.“
Wenn es soweit ist, stellen sich noch ganz andere, eigentlich die wichtigsten Fragen, die Dr. Ingenhoven so zusammenfasst:
Sind EBM-Kriterien überhaupt geeignet die Sinnhaftigkeit von operativen Interventionen zu erfassen? Bei welchen Operationen in O&U ist der Nutzen durch Level 1 Studien (verblindet, randomisiert, prospektiv) nachgewiesen? Wird zunehmend die verantwortliche gemeinsame Entscheidung in der Patienten – Arzt Ebene ausgehebelt? Dominieren nun nach den Kaufleuten, Verwaltungsfachleuten und Versicherungsmathematikern zunehmend Biomathematiker und Statistiker unseren Beruf? Und: Wie können wir das verhindern?
Dazu trafen sich 200 Fachärzte für Arthroskopie in Düsseldorf zur 26. Jahrestagung des Berufsverbandes für Arthroskopie um zuzuhören, sich auszutauschen, zu diskutieren. Es ging um nichts Geringeres als die Zukunft der Arthroskopie und Gelenkchirurgie in Deutschland. Und zwar um die Zukunft aus jedem Blickwinkel: für den Arzt, den Patienten, die Kassen, das Gesundheitssystem insgesamt. Die Zukunft der Medizin, Technik, Ethik, des Bezahlbaren und des Unbezahlbaren.
Fazit: Das Engagement jedes Einzelnen wird gebraucht – nicht nur, um die Patienten, sondern auch das kranke Gesundheitssystem zu therapieren.
Schon bei der Begrüßung durch den 1. Vorsitzenden des BVASK, Dr. Ralf Müller-Rath, prasselte die aktuelle Berufspolitik auf jeden Teilnehmer ein: die Arthroskopie bei chronischer Kniegelenkarthrose (Gonarthrose) soll ab April keine Kassenleistung mehr sein!
Betriebswirtschaftlich nicht unbedingt bedrohlich, nur wie sollen die Ärzte mit den betroffenen Patienten umgehen? Spezifische Abrechnungs-Codes nehmen, weil der primäre Grund der OP ja häufig doch ein anderer (mit Kassenleistung) sein kann?
Das Ganze als Selbstzahler-Leistung durchkämpfen? Oder bei reiner Gonarthrose die Behandlung verweigern mit Hinweis auf die Wahl zwischen Ibuprofen oder gleich einem künstlichen Gelenk? ‚
Fakt ist, dass Einigkeit unter den Ärzten bestehen muss. Der BVASK wird dazu eine Strategie erarbeiten, denn, so Dr. Müller-Rath „dies ist erst ein Warnschuss. Das nächste Thema ist der degenerative Meniskusschaden. Ungemach droht hier aus Frankreich und Skandinavien. Um abstrusen Einzelmeinungen und unwissenschaftlichen Studien begegnen zu können, brauchen wir valide Daten.“
Beim Thema DRG sieht es nicht besser aus. „Diese gefährden eine bedarfsgerechte und bevölkerungsnahe Versorgung“, so das Resümee von Prof. Michael Simon von der Hochschule Hannover. Eine Abkehr von den DRG sei dringend geboten, die Kliniken müssten betriebswirtschaftlich arbeiten können.
Was Gesetze für die Zukunft im Gesundheitswesen anrichten können, zeigte Prof. Helge Sodann vom Deutschen Institut für Gesundheitsrecht sehr anschaulich auf. Seit 30 Jahren gäbe es keine substantiellen Verbesserungen von Vorschriften mehr, vor allem für die gesetzlich versicherten Patienten – und die machen immerhin 90 Prozent der Bevölkerung aus. Teilweise sei sogar eine Annäherung der gesetzlichen und privaten Modelle zu sehen und selbst die Bürger“zwangs“versicherung werde immer wieder hervorgeholt, obwohl diese sogar verfassungswidrig ist! Am Beispiel Versorgungsstärkungsgesetz zeigte Prof Sodann: „Nehmen Sie die Terminservicestellen. Wer in vier Wochen keinen Termin bekommt, soll in ein Krankenhaus gehen können. Hier wird nicht nach Lösungen gesucht. Denn wenn es zu wenige Termine gibt, müssen die Fachärzte ja entweder zu wenige oder zu schlecht verteilt sein, zuviel Bürokratie um die Ohren haben oder schlecht bezahlt werden.“ Die Kliniken seien personell gar nicht darauf vorbereitet. Ergo werde das Problem nur von den Niedergelassenen ins Krankenhaus verschoben. Und obendrein verschärfe man die Situation noch mit dem Abbau von Arztsitzen.
Aber es geht noch verrückter: Für die Terminservicestellen werden 25 Mio. Euro im Jahr ausgegeben – was für ein bürokratischer Unsinn! Dazu kommt die faktische Abschaffung der freien Arztwahl, die ist aber wiederum im Grundgesetz verankert.
Dann auch noch die Zweitmeinung. Die Anforderungen dafür „müssen vom Bundesausschuss erarbeitet werden“, so Sodann. Nur bestimmte Ärzte dürften jedoch die Zweitmeinung erstellen, was wiederum zu Zwei-Klassen-Medizinern führt.
Das Versorgungsstärkungsgesetz ist jedoch noch für andere Überraschungen gut: Über 2000 Medizinische Versorgungszentren gibt es derzeit bereits in Deutschland. Und es werden immer mehr. Jetzt können auch Kommunen MVZ gründen.
So war „die Politik“ dann auch eingeladen. Und Frau Dr. Agnes-Marie Strack-Zimmermann, stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP nahm gern an. Ihre Einschätzung: „Wir haben viel Geld im System, aber es fließt zu wenig in die Ambulanz und in nachgeordnete Hilfsmittel und die Pflege.“ Eine OP verliefe meist gut, aber hinterher würden, gerade die älteren, Patienten allein gelassen. Ihr Vorschlag: „Das Geld sollte an den Patienten gekoppelt sein. Er muss es für seine Behandlung immer mitnehmen von der Klinik in die Praxis usw.“.
Ihr Blick in die Zukunft: „Die Patienten werden immer höhere Ansprüche haben. Aber sie werden es nicht mehr bezahlen können und wollen. Das Gefälle zwischen Kassen- und Privatpatient wird immer schwieriger. Es wird viele Praxisgemeinschaften geben und ein Ranking der Ärzte bekommt einen immer höheren Stellenwert. Die Ärzte werden zunehmend über die Entlassung hinaus medizinische und ethische Verantwortung tragen müssen. Mein Appell an die Ärzte: Nehmen Sie die Sicht des Patienten an und helfen Sie ihm durch den Dschungel des Gesundheitssystems!“
Was die FDP für ein funktionstüchtiges Gesundheitssystem tun kann und wird, verriet die Politikerin allerdings nicht.
Die Kommentarfunktion ist geschlossen.