Artikel von Klaus Huhn, Januar 2011

Muß ich jemandem voraussagen, was er spätestens morgen einmal mehr aus den Medien über die DDR erfahren wird? Die meisten können auf eine solche Voraussagung verzichten – sie wissen es seit Jahr und Tag.

Am 21. Februar 1848 erschien in London das „Kommunistische Manifest“, das mit den Worten beginnt:
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“.

In der Gegenwart hat man dieses Gespenst in der Fahne der DDR gekleidet und präsentiert täglich eine andere Passage zum Thema „Unrechtsstaat“.

Das wußten Sie schon? Trösten Sie sich: Ich wußte es auch.
Wir alle wissen es und deshalb scheint es müßig, es einmal mehr zu erwähnen.

Daß der Unrechtsstaat, in dem wir jedoch derzeit leben, bei all seinen Gespensterbeschwörungen gern so manches Unrecht unter alle Teppiche kehrt, ist auch hinlänglich bekannt, sollte aber zuweilen in Erinnerung gerufen werden.
Bei näherer Betrachtung fällt der Vergleich zwischen der Russland-Darstellung als homophober Tyrannenstaat und der DDR-Stasi-Diktatur auf.

Daß an der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten Menschen ums Leben kamen, kann nur bedauert und betrauert werden. Wer auf die Idee kam, Menschen zu ermuntern, gewaltsam die Grenze überwinden zu wollen, scheint niemanden zu interessen.

Doch es gab auch Opfer die man gern unter dem Tisch kehren möchte, jene Todesopfer von der anderen Seite.
Nie wird erwähnt, daß es an anderen deutschen Grenzen viele Todesopfer gab, denen heute niemand auch nur einen Gedanken der Erinnerung widmet. Wer gedenkt der 31 Toten von 1945 bis 1952 an der anderen Grenze?

Die Fakten:
Am 1. Oktober 1952 befaßte sich der Bundestag in seiner 231. Tagung mit diesen Opfern.
Einer, der sich dazu äußerte, war der CDU-Abgeordnete Günther.

Hier das Protokoll seiner Ausführungen:

„Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich als Abgeordneter eines Grenzkreises … einiges hinzusetze. (…) Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in der Presse, vor allen Dingen in der Aachener Presse, irgendetwas über Schmuggel gemeldet wird, und jeden Tag werden irgendwelche Zeitungsnotizen mit dicken Überschriften von der Bevölkerung gelesen: ,17jähriger Schmuggler angeschossen‘, … ,An der Grenze herrscht wirklicher Krieg‘, …,Schüsse ohne Rücksicht auf Passanten‘, ,Schmuggel fordert ein Menschenleben‘, ,Manöverstimmung in der Eifel’… ,Schmuggler brach zehn Meter vor der Grenze zusammen‘ usw.

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt von Zeitungsnotizen einer einzigen Zeitung, die nicht irgendwie in Sensationen macht, sondern so ist im Augenblick die Situation an der Aachener Grenze. (…) Wir haben bekanntlich in Deutschland die Todesstrafe abgeschafft; es geht im Augenblick darum, ob die Todesstrafe wieder eingeführt werden soll.

Selbst diejenigen, die als Befürworter der Wiedereinführung der Todesstrafe eintraten, beschränken sich darauf, daß die Todesstrafe nur eingeführt werden soll für ganz schwere Vergehen und da, wo man den Betreffenden sofort überführt hat.

In diesem Fall sind hier unter den Opfern, die an der Grenze bei der Verfolgung des Schmuggels usw. entstehen, Jugendliche, Kinder, Erwachsene und, was noch bedauerlicher ist, in größerem Umfang Leute, die nicht am Großschmuggel beteiligt sind, sondern die dort als Grenzgänger irgendwie auf ein ‚Halt‘ nicht stehengeblieben sind, dann angeschossen und unglücklich getroffen wurden. (…)

Das entscheidende Argument scheint mir aber doch folgendes zu sein.

Wenn an der deutschen Grenze im Jahr drei, vier oder fünf Menschen erschossen, eine wesentlich größere Zahl von Menschen körperlich verletzt werden, nur weil sie Kaffee bei sich haben und auf den Halt-Ruf des Zöllners nicht stehenbleiben, dann liegt hier eine Verkennung der Rechtsgüter vor.

Der Staat hat unter keinen Umständen das Recht, auf einen Menschen nur deshalb schießen zu lassen und ihn eventuell sogar zu töten, weil er dem Staat einige Zölle oder Abgaben hinterzieht. Hier stehen das Rechtsgut der staatlichen, fiskalischen Interessen, die sicher beachtenswert sein müssen, und das Rechtsgut des menschlichen Lebens einander gegenüber.
Bei der Wahl zwischen diesen beiden Rechtsgütern dürfen wir nicht deshalb rücksichtslos über Menschenleben verfügen, weil wir hoffen, ein paar Mark mehr in die Finanzkasse zu kriegen.“

Damit niemand glaubt, der Bundestag habe sich nur an jenem Tag mit diesem Problem befaßt, sei noch ein Zitat aus der Debatte vom 12. Juni 1953 wiedergegeben.

Der Abgeordnete Erich Mende – erst FDP, dann CDU, Mitglied des Bundestages von 1949 bis 1980, zuvor ausgezeichnet mit dem Ritterkreuz der faschistischen Wehrmacht und später mit dem Großkreuz des Bundesverdienstordens der BRD – begründete vor dem Parlament sogar den von niemandem geleugneten bundesdeutschen Grenz-Schießbefehl, und zwar mit dem Argument:

„Wir wissen, daß die Agenten und Infiltranten nicht so dumm sind, ausgerechnet über die Zonengrenze zu uns zu kommen. Sie wählen den viel bequemeren Weg über Frankreich, über Holland oder über Belgien und gehen hier durch die offene Tür im Aachener Raum.“

Auch das wäre in den Protokollen nachzulesen, wenn man denn wollte. Und glaubt jemand, es könnten Zweifel aufkommen, wer mit den „Agenten“ gemeint war?
Mende hatte da keinerlei Zweifel aufkommen lassen, als er dem „Hohen Haus“ erklärte, warum man auch an den Westgrenzen der Bundesrepublik zur Waffe greifen müsse: Die ‚Agenten‘ wären nicht so ‚dumm‘, über die deutsch-deutsche Grenze in die Bundesrepublik zu kommen, sondern vom Westen her.

Hatte irgend jemand in den letzten 20 Jahren an diese Bundestagsdebatte erinnert, in der begründet worden war, warum auch rund um Aachen mit scharfer Munition geschossen werden mußte?

Und zwar auf Befehl, den man kaum anders als ‚Schießbefehl‘ bezeichnen konnte! Und damit niemand vermutet, hier sei ‚einsames Ereignis behandelt worden, will ich auch noch die ‚Finanzpolitischen Mitteilungen des Bundesministeriums für Finanzen‘ vom 25. November 1952 erwähnen.

Die enthielten einen Artikel mit der Überschrift ‚Der Waffengebrauch im Zollgrenzdienst‘ und in dem wurde – wenn auch nur in einem Nebensatz – darauf verwiesen, daß schon von 1945 bis 1952 durch Schußwaffeneinsatz 31 Deutsche an den bundesdeutschen Westgrenzen ums Leben gekommen waren.  Danach wurden diese Zahlen nie wieder publiziert. Sie verschwanden aus der bundesdeutschen Geschichtsschreibung.

Bliebe noch darauf hinzuweisen, daß es auch nach 1990 beklagenswerte Todesopfer an den Grenzen gab.

Von 1993 bis 2006 starben an der deutschen Ostgrenze 170 Menschen. Zu diesem Zeitpunkt existierte die DDR längst nicht mehr!

Es bliebe nur die Frage: Wer ehrt die Toten von Aachen und Umgebung und wer ehrt die Toten von 1993 bis 2006 von der Oder?
Wer tut das in diesem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland?