Mit der Übernahme der DDR beherrschte das westdeutsche Kapital bald den Handel mit Osteuropa und verschaffte sich eine Vormachtstellung in der EU (Exbundeskanzler Helmut Kohl mit EG-Kommissionspräsident Jacques Delors, Bonn am 28.9.1990)
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Dem italienischen Banker und Ökonomen Vladimiro Giacché konnten junge Welt-Leser bereits über die Besprechung seines Bandes »Titanic Europa – Geschichte einer Krise« (jW vom 30.12.2013) begegnen. In diesen Tagen erscheint nun von ihm im Hamburger Laika Verlag ein neues Buch. Es geht darin um die ökonomischen und politischen Hintergründe der Annexion der DDR durch die BRD. Mit großer Kenntnis entsprechender deutschsprachiger Literatur zeichnet Giacché das Bild von der Abwicklung der sozialistischen Volkswirtschaft, ihrer Eliten und von den Folgen für das annektierte Land (Kapitel 6). Im siebten Kapitel widmet sich Giacché dem wirtschaftlichen Profit aus der Aneignung des Landes durch das westdeutsche Kapital. Dem erwächst aus dem riesigen Geschäft die ökonomische Kraft zur Beherrschung Westeuropas. jW dokumentiert das Kapitel 7 minimal gekürzt und verzichtet auf die Anmerkungen. (jW)
Wenn wir uns jetzt den Folgen der deutschen Vereinigung für den Westen zuwenden, stoßen wir auf nicht geringere Überraschungen. Uns wurde erzählt, die Einheit sei von Anfang an, seit dem »Geschenk« der D-Mark an Ostdeutschland, eine großzügige Gabe Westdeutschlands gewesen. Und daß diese Großzügigkeit sich für fast eine Generation fortgesetzt habe in Form enormer Transferzahlungen von West nach Ost. Es müßte sich demnach um eine verlustreiche Operation, fast einen heroischen Akt gehandelt haben: eine Selbstopferung Westdeutschlands und seiner Wirtschaft auf dem Altar einer höheren Idee. So sei die historische Chance der Wiedervereinigung Deutschlands und der Wiedergeburt der deutschen Nation ergriffen worden. Soweit der Heldengesang. – Die Sache hat sich allerdings etwas anders verhalten.
Wie so oft sind es führende Vertreter der Wirtschaft, die am deutlichsten aussprechen, wie die Dinge wirklich liegen. So Heinrich von Pierer, damals Vorstandsvorsitzender von Siemens, der in einem Spiegel-Interview vom 13. Mai 1996 betont: »In Deutschland haben wir Anfang der neunziger Jahre vom Boom durch die Wiedervereinigung profitiert. Da herrschte in den USA noch Rezession. Uns ging es gut.« Den gleichen Gedanken, nur umfassender formuliert, finden wir in einer Untersuchung von Deutsche Bank Research im selben Jahr: »Die westdeutsche Wirtschaft, insbesondere in den Jahren 1990 bis 1992, [konnte] stark von der Maueröffnung profitieren. (…) Der transferfinanzierte Einigungsboom bescherte den alten Bundesländern im Durchschnitt dieser Jahre eine reale Wachstumsrate von gut vier Prozent. (…) Das starke Wachstum in den alten Bundesländern trug wesentlich dazu bei, daß sich die Anzahl der Erwerbstätigen in Westdeutschland im Zeitraum 1990–1992 um fast 1,8 Millionen erhöhte. Die deutsche Vereinigung führte damit in den alten Bundesländern infolge der Wachstumsgewinne zu erheblichen Steuermehreinnahmen und Minderausgaben, die den vereinigungsbedingten Lasten gegenzurechnen sind.«
Ehe wir darangehen, die »vereinigungsbedingten Lasten« zu quantifizieren, sollte präzisiert werden, daß es unangemessen wäre, allgemein von »Lasten für den Westen« zu sprechen: Das eine ist die Belastung des Staatshaushalts, eine andere Sache sind die Auswirkungen dieser Lasten auf die Unternehmen Westdeutschlands. Die so positiv waren, daß einige Wirtschaftsexperten von einem »gewaltigen keynesianischen Konjunkturprogramm« für die westdeutschen Unternehmen sprachen. So etwa 1993 Lutz Hoffmann, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): »Da die Transferzahlungen überwiegend durch Verschuldung des Staates finanziert wurden und in Form von Käufen bei westdeutschen Unternehmen weitgehend wieder nach Westdeutschland zurückflossen, hatte der Aufbau dieses Transferprogramms die Wirkung eines gewaltigen keynesianischen Konjunkturprogramms, das der westdeutschen Wirtschaft in der Phase eines weltweiten Konjunkturrückgangs überdurchschnittlich hohe Wachstumsraten bescherte.«
Unter einem anderen Blickwinkel setzte sich 1996 das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) mit dem Thema auseinander. Es verglich das Wachstum des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts mit der Gesamtheit der Transferzahlungen nach Osten und kam zu überraschenden Resultaten: »Die gesamtwirtschaftliche Produktion in Westdeutschland hat nach der deutschen Vereinigung einen deutlichen Niveauschub erzielt; dieser kann auf eine Größenordnung von nominal rund 200 Milliarden DM im Jahr veranschlagt werden. Vor der deutschen Vereinigung folgte das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt einem Wachstumstrend, der die Produktion von etwa 1570 Milliarden DM im Jahre 1970 auf gut 2320 Milliarden DM im Jahre 1989 erhöhte.« Mit der Vereinigung aber, so das IWH, veränderte sich dieser Trend deutlich: »Im Jahre 1997 wird das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt um rund sieben Prozent über dem Wert liegen, der sich bei Fortschreibung der Trends 1979/89 ergeben hätte.« Und: »Der Vereinigungsgewinn übersteigt (somit; V. G.) die Transferzahlungen, die Westdeutschland zugunsten Ostdeutschlands leistet (Größenordnung 150 Milliarden Mark).«
Wenn wir das Wachstum vor der Einheit mit dem während der Vereinigungsjahre vergleichen, werden der Bruch des Trends und die Beschleunigung der westdeutschen Wirtschaftsentwicklung offenkundig. Von 1980 bis 1989 wuchs das westdeutsche BIP um insgesamt 18,1 Prozent (also um durchschnittlich 1,8 Prozent pro Jahr), 1990 um 4,5 Prozent (das höchste seit 1976) und im Jahr danach um 3,2 Prozent. Doch schauen wir uns die Elemente des Vereinigungsbooms an.
Eroberung des Ex-DDR-Marktes
Den Unternehmen Westdeutschlands tat sich ein Markt von über 16 Millionen Einwohnern auf, zuerst dank der Währungsunion, dann der Vereinigung. Der D-Day, oder besser der DM-Day, war der 1. Juli 1990. Und dies nicht nur, weil die Bürger Ostdeutschlands mit den gerade eingetauschten Mark nun Westwaren kauften, sondern auch weil der Tauschkurs die Produkte des Ostens vom Markt warf.
Es verwundert daher nicht, daß sich, so die Bundesbank, rund 50 Prozent des BIP-Wachstums Westdeutschlands in den Jahren 1990/91 mit dem steilen Anstieg der Exporte nach Ostdeutschland erklären lassen. Der genau mit dem Inkrafttreten der Währungsunion beginnt. Der von den neuen Bundesländern zum Wachstum in den alten Bundesländern geleistete Beitrag lag bei 40 Prozent im zweiten Halbjahr 1990 und sogar bei 55 Prozent im ersten Halbjahr 1991. Dies gilt für Dienstleistungen nicht weniger als für Waren. Im Gefolge des Erwerbs von Ostdeutschland machten die Westbanken allein im Jahr 1990 Profite von geschätzt 150 bis 200 Milliarden Mark.
Die Strukturen des ostdeutsche Binnenmarkts wurden dauerhaft westdeutsch. Das läßt sich mit Händen greifen, wenn man einen Laden oder Supermarkt in den neuen Ländern betritt. In keinem anderen Teil Deutschlands – so (der ehemalige Botschafter der DDR in Jugoslawien; jW) Ralph Hartmann – »gibt es so wenig regionale Produkte wie in den Ostländern und so viele Produkte aus anderen Bundesländern. Jahr für Jahr produziert die westdeutsche Wirtschaft Güter und Leistungen im Wert zwischen 100 und 120 Milliarden Euro für den ostdeutschen Markt.«
In strategischer Hinsicht noch bedeutender für die westdeutsche Wirtschaft war die fast völlige Ersetzung Ostdeutschlands als Exporteur in die Märkte Osteuropas. Die entsprechenden Zahlen haben wir bereits kennengelernt. Sie lassen keinen Zweifel daran, daß westdeutsche Unternehmen die ostdeutschen Betriebe in nur fünf Jahren von diesen Märkten verdrängt haben.
Der französische Wirtschaftsexperte Guillaume Duval (schrieb in seinem Buch »Made in Germany«; jW): »Die westdeutschen Unternehmen haben mittels ihrer Kontrolle über die früheren Kombinate Ostdeutschlands deren Netz von Beziehungen in der ehemals kommunistischen Welt geerbt.« Und nicht nur dies: Die »rasche Rückeroberung des mitteleuropäischen ›Hinterlands‹ war deshalb (viel mehr als die Reformen Schröders) ein Hauptfaktor der Neupositionierung der deutschen Industrie«. Der Anschluß der DDR war der Dietrich, der den westdeutschen Unternehmen einen Markt von 101 Millionen Menschen geöffnet hat. Ein Absatzmarkt nicht nur für in der BRD erzeugte Konsumgüter, sondern auch für deutsche Maschinen. Die mittelosteuropäischen Länder (die sogenannten MOEL) wurden darüber hinaus die Peripherie (das »Hinterland«, wie Duval schreibt) des deutschen Industriezentrums: Sie wurden Zulieferer von niedrigpreisigen Halbfertigerzeugnissen für die westdeutsche Industrie und machen es so den westdeutschen Unternehmen möglich, ihre hochentwickelten Fertigprodukte zu günstigen Preisen anzubieten. Die außerordentliche Steigerung der deutschen Exporte, von 23,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 1995 auf 51,9 Prozent im Jahr 2012, hat deshalb ihre Wurzeln auch in der Einverleibung Ostdeutschlands.
Beseitigung der Konkurrenz
Interessanterweise benutzen Autoren, die sonst kaum etwas gemein haben, dieselbe Metapher, um den Charakter der wirtschaftlichen Vereinigung zu beschreiben: Sie reden in der Börsensprache von einer »Übernahme«. Guillaume Duval definiert den Vereinigungsprozeß aus ökonomischer wie politischer Sicht als eine »Übernahme des Ostens durch den Westen«. Auch der frühere DDR-Planer Siegfried Wenzel benutzt diesen Begriff, fügt aber eine wesentliche Eigenschaft hinzu: Er spricht von »feindlicher Übernahme«. Unter feindlicher Übernahme versteht die Börse eine Fusion, bei der eine Firma eine andere übernimmt, um einen Konkurrenten auszuschalten und dessen Marktanteile zu kassieren. Genauso hat die Treuhandanstalt die ostdeutschen Unternehmen privatisiert oder liquidiert. Ihre Entscheidungen schadeten in keinem Fall westlichen Unternehmen, die in denselben Marktsegmenten operierten wie der Treuhand anvertraute ostdeutsche Betriebe. Manchmal ließ die Treuhand Firmen lieber sterben, als sie an ausländische Konkurrenten westdeutscher Unternehmen zu verkaufen (Interflug).
In anderen Fällen dienten Fusionen dazu, Produktionskapazität im Osten zu vernichten (Mitteldeutschen Kaliwerke Bischofferode). Wenn ein Produkt einer ostdeutschen Firma konkurrenzfähig war und die Marktposition von Wettbewerbern im Westen zu schmälern drohte, schlossen sich diese zusammen, um das ostdeutsche Unternehmen zu ruinieren (Foron). Wenn der ostdeutsche Konkurrent über eine starke Stellung im Markt verfügte, entschied man, daß diese Macht den Wettbewerb verzerre, und liquidierte das Unternehmen (Vereinigte Transport AG). In all diesen Fällen war das Ergebnis das gleiche: Beseitigung wirklicher oder potentieller Konkurrenten der Westunternehmen und Vernichtung von Produktionskapazitäten im Osten, um die Interessen der westdeutschen Industrie zu schützen.
»Verlängerte Werkbänke«
Direkte Folge der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion: In keinem anderen Teil der BRD gibt es so wenige regionale Produkte und so viele aus anderen Bundesländern wie in Ostdeutschland (Laden in Dresden, 1.7.1990)
Foto: Ulrich Hässler/dpa
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Bestenfalls verloren die privatisierten Unternehmen ihre Eigenständigkeit und wurden zu Filialen oder Zweigbetrieben von Westfirmen. Ein beneidenswertes Schicksal, verglichen mit dem, das Tausende Betriebe (30 Prozent) traf, die liquidiert wurden.
Schon 1992 markierte (die ehemalige Wirtschaftsministerin der DDR; jW) Christa Luft als »hervorstechendes Merkmal des Privatisierungsprozesses in Ostdeutschland (…) in den ersten beiden Jahren« der Treuhandanstalt die Tatsache, daß die Ostunternehmen Tochtergesellschaften westdeutscher Firmen wurden: »Das traf auf über 90 Prozent der bis Mitte 1992 verkauften Unternehmen zu.« Die Treuhandanstalt bevorzugte »ein spezifisches sozialökonomisches Resultat: eine ›Filialökonomie‹ westdeutscher Konzerne, Banken, Versicherungsgesellschaften und Handelsketten«. Die in den »filialisierten« Betrieben Beschäftigten sahen, so Luft, das Schicksal ihrer Unternehmen begreiflicherweise mit Erleichterung, blieb doch vielen der Arbeitsplatz erhalten. Auf längere Sicht aber hatte die Umwandlung von eigenständigen Unternehmen in Zweigbetriebe höchst problematische Aspekte. Das Leben einer Filiale ist per se viel gefährdeter als das eines eigenständigen Betriebs. Schwächelt die Konjunktur, opfert das Mutterhaus die Filiale zuerst. Außerdem finden Forschung und Entwicklung nicht in Filialbetrieben statt, ihnen werden meist nur ausführende Tätigkeiten übertragen (zuweilen als bloße Zulieferer von Teilen für das Endprodukt, die wenig zur Wertschöpfung beitragen).
Ein weiterer negativer Effekt der Umwandlung der DDR-Wirtschaft in eine »Filialökonomie«, so Christa Luft, betrifft die Steuern. Es handelt sich um den »Aldi-Effekt«. Die großen Handelsketten zahlen, wie viele andere Gesellschaften, ihre Steuern in dem Bundesland, in dem sie bzw. ihr Mutterhaus ihren Geschäftssitz haben. Dies schadet den Bundesländern, in denen die Filialen angesiedelt sind. Ihnen fehlen die Steuern, die zwar vor Ort erwirtschaftet, aber an den Sitz des Unternehmens transferiert werden. Das verschärft die ohnehin prekäre Finanzlage der neuen Bundesländer weiter. Schon 1991 hat zum Beispiel Brandenburg geschätzt, daß es wegen des Aldi-Effekts lediglich 37 Prozent der Unternehmenssteuern erhielt, die in diesem Bundesland erwirtschaftet wurden.
Ruinöse Immobilienpreise
Zu den Folgen der Privatisierungen des DDR-Vermögens zählen die immensen Profite, die mit dem Erwerb von Betrieben und Immobilien weit unter Wert erzielt wurden. In einem übersättigten Markt bestimmt der Käufer den Preis. Und die Treuhand tat alles, um die Marktpreise für Betriebe und Immobilien weiter zu ruinieren. Dazu kamen Betrugsfälle, bei denen gewaltige Summen in dunklen Kanälen versickerten. Davon abgesehen war es die Regel und nicht die Ausnahme, daß Unternehmen, die Hunderte Millionen Mark in der Kasse hatten und überdies öffentliche Gelder erhielten, für den symbolischen Preis von einer Mark verkauft wurden. Häufig besaßen Unternehmen Grundstücke und Immobilien, die diese Geschäfte noch profitabler machten.
Meist erfuhren Gebäude und Grundstücke in den ersten Jahren nach der Einheit erhebliche Neubewertungen, die allein den Käufern zugute kamen. Später aber ging es in die Gegenrichtung. Die Zerstörung der Industrie zwang viele Ostdeutsche, in den Westen abzuwandern. Die Städte leerten sich, und die Immobilienpreise fielen mangels Nachfrage. Weitere Bereicherungsmöglichkeiten in großem Stil bot nicht zuletzt der Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung«. (…)
Osttransfers für Westunternehmen
Auch dem Westen wohlgesonnene Beobachter (wie Duval in seinem Buch; jW) haben bemerkt, daß »die staatlichen Transferzahlungen Richtung Osten, über die sich die Westdeutschen so bitter beklagen«, in Wirklichkeit »überwiegend an den Westen in Form von Gütern und Dienstleistungen zurückgeflossen« sind.
Den genauen Umfang dieses »Rückflusses« hat 1992 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) quantifiziert: »Von 100 Millionen DM, die in den neuen Bundesländern für Ausrüstungen und Anlagen ausgegeben wurden, landeten fast 78 Prozent in den alten Ländern und im westlichen Ausland. Von 100 DM, die im Osten für Konsumartikel ausgegeben wurden, blieben genau 30,50 DM dort, der Rest floß ab an westdeutsche Produzenten, Handelsketten, Automobil- und Warenhauskonzerne« (schreibt 2003 der ehemalige stellvertretende Minister für die DDR-Schwerindustrie, Klaus Blessing; jW). Die in den Jahren ausgebaute Struktur der Hilfen, die wenigstens zur Hälfte aus Sozialleistungen (Renten, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe bzw. Hartz IV) bestehen, hat diesen Rückfluß der Osttransfers gen Westen zementiert. Ostdeutschland ist eine Zuschußökonomie geworden, deren Verbrauch – mit Transfers der Bundesregierung – die Westunternehmen bereichert.
Profite und Privatvermögen
Das Ergebnis der Vereinigungspolitik war eine spektakuläre Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts, der Profite der Unternehmen und des Privatvermögens der Haushalte – im Westen. In den der Einheit unmittelbar folgenden Jahren wuchsen die Profite der Kapitalgesellschaften (besonders AG und GmbH) im Westen um 75 Prozent. Das Vermögen der Westunternehmen stieg von 1989 bis 1991 um 300 Milliarden Mark.
Die Zahl der Millionäre erhöhte sich im selben Zeitraum um 40 Prozent. Die Privatvermögen explodierten wie nie zuvor. Von 1983 bis 1988 war das mobile Vermögen der Westdeutschen von 796 Millionen auf 987 Millionen Mark gestiegen, das Immobilienvermögen von 2805 Milliarden auf 2894 Milliarden. Von 1988 bis 1993 aber gab es einen Sprung: Das mobile Vermögen stieg auf 1850 Milliarden, das Immobilienvermögen auf 5312 Milliarden. Und es wuchs auch im folgenden Jahrfünft weiter, wenn auch verhaltener. Die Werte für 1998 lauten 2110 bzw. 5537 Milliarden. Der damalige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) hatte also recht, als er 1996 schrieb: »In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost« – so wurde das Programm für die neuen Länder genannt – »das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat.« Auch Edgar Most (der letzte Vizepräsident der Staatsbank der DDR; jW) spricht von einem »Konjunkturschub für die Westdeutschen durch die Wiedervereinigung«.
Doch die genannten Zahlen rechtfertigen die noch prägnantere Feststellung von Christa Luft: »Stattgefunden hat eine ursprüngliche Akkumulation gigantischen Ausmaßes.« Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, daß es sich um eine Akkumulation durch Expropriation gehandelt hat in dem Sinn, den David Harvey jüngst diesem Begriff gab: Krise als Gelegenheit, entwertetes Vermögen in großem Maßstab zu erwerben.
Wie immer man die Sache bewerten mag, das westdeutsche Kapital hat sich durch die Einheit so verstärkt, daß es einen Qualitätssprung machte. Hinzu kommt, daß die Vereinigung das politische Gewicht der BRD erhöht hat. Mit 80 Millionen statt 64 Millionen Einwohnern (plus 25 Prozent) wurde sie in ökonomischer wie politischer Hinsicht zur Hauptmacht auf dem europäischen Kontinent. Das war, für Westdeutschland, die eigentliche Dividende des Anschlusses der DDR.
Vladimiro Giacché: Anschluß – Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas. Laika Verlag, Hamburg 2014, 164 Seiten, 22,00 Euro * Übersetzt aus dem Italienischen von Hermann Kopp
Vladimro Giacché ist Referent der Veranstaltung »Schnäppchen DDR« am 27.9. in der jW-Ladengalerie (Torstraße 6, Berlin-Mitte). Die Konferenz der Marx-Engels-Stiftung und der jungen Welt geht von 11–17 Uhr. Anmeldung unter mm@jungewelt.de
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