Interview mit Honecker
Erschienen in der Westdeutschen Systempresse, 31.1.1986 Nr. 06 in der (System-)ZEIT
Ein deutscher Kommunist, ein deutscher Realist
Seine Titel sind lang und umständlich: „Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik.“ Es läßt sich auch knapper sagen: Erich Honecker ist der mächtigste Mann der DDR, seit 1971. Ab und zu geht das Gerücht um, daß seine „Zukunft in Zweifel“ rücke; so hat gerade der Economist Geraune über die mögliche Ablösung des SED-Chefs im April kolportiert. Augenschein wie Analyse sprechen dagegen.
In der vorigen Woche hat Erich Honecker der ZEITung ein Interview gewährt (siehe S. 3-7). Es war vor drei Jahren beantragt, damals im Prinzip genehmigt und dann auf unbestimmte Zeit verschoben worden, umständehalber. Kurz vor dem Jahreswechsel wurde das Projekt aufs neue hervorgeholt. Anfang Januar übermittelte die ZEITung 25 schriftliche Fragen. Die – ebenfalls schriftlichen – Antworten wurden uns am 24. Januar ausgehändigt. Danach empfing Honecker den Chefredakteur und die DDR-Korrespondentin der ZEITung zu einem Gespräch. Es fand im großzügig dimensionierten Büro des Staatsratsvorsitzenden statt – in dem Gebäude am heutigen Karl-Marx-Platz, in dessen Fassade ein Portal des alten Schlüter-Schlosses eingefügt ist – und dauerte eine Stunde und fünfunddreißig Minuten. Was dabei gesprochen wurde, ist zum größten Teil in die schriftliche Version des Interviews eingearbeitet worden. Erich Honecker, der tags zuvor selber die letzten Antworten diktiert hatte, redigierte auch mit eigener Hand die ihm zur Autorisierung vorgelegte Endfassung.
Wie wirkt Honecker? Er wird im August 74 Jahre alt, aber er sieht um gut ein Jahrzehnt jünger aus; durch Gymnastik, Wandern, Schwimmen und Jagen hält er sich fit. Er spricht mit fester, manchmal leiser Stimme. Seine Sätze kommen ohne Schnörkel und Stanzfloskeln daher; er formuliert beredt. Er ist freundlich im Umgang, lächelt und lacht, läßt sich unterbrechen. Keine Verlegenheit, aber auch keine aufgesetzte Jovialität. Seine Fakten hat er präsent. Auf Zitate von Marx, Engels & Nachfolgern verzichtet er; er räsoniert aus der Sache, nicht aus der Ideologie.
Überhaupt kehrt er den Realisten heraus. Vernunft und Realismus – das Begriffspaar taucht in seinen Ausführungen immer wieder auf. Nicht zurück in die Schützengräben des Kalten Krieges, Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Atmosphäre für Normalität schaffen, „Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten darf keine zusätzlichen Belastungen der Lage in Europa hervorrufen“. Das sind nicht bloß Propaganda-Sprüche; Honecker handelt auch danach.
Im übrigen: Man ist flexibel. Man muß sich revidieren können. Auch früher einmal verworfene Ideen sollte man noch einmal überprüfen, neue Ideen ausprobieren. Bundeskanzler Kohl? Er praktiziert Kontinuität. Die Konzerne? Sie wollen Geschäfte machen, die DDR auch; so ist das Leben. Wenn sie (die BRD) sich aber an SDI (Regeans Strategic Defense Initiative als National Missile Defense in den 90igern unter Bush neu aufgelegt) beteiligen? Die Frage ist zweitrangig.
Deutsche Einheit? Früher einmal hat Honecker gesagt, auch Kommunisten könnten träumen. Aber in sein realistisches Weltbild von heute paßt die Wiedervereinigung nicht einmal mehr unter sozialistischem Vorzeichen. Wer unter seinen Verbündeten wollte sie schon? „Wir gehen nach den Realitäten.“
Natürlich rückt Honecker nicht von seinen Grundüberzeugungen ab. Er ist und bleibt Kommunist – aber ein deutscher Kommunist. Gewiß hat er nicht „unbegrenzten Spielraum“, wie er im Interview behauptete. Er muß seine Normalisierungspolitik vor einem schwierigen Moskauer Hintergrund entwickeln. Im Spätsommer 1984 war er gezwungen, einen Besuch in der Bundesrepublik abzusagen, nachdem ihm die Prawda unterstellt hatte, er lasse sich von den Westdeutschen mit „wirtschaftlichen Hebeln“ erpressen. Aber auch danach blieb er bei der Parole „Schadensbegrenzung“; die Polemik gegen Bonn, die Revanchismus-Vorwürfe, das Poltern wegen SDI klangen jedenfalls auffällig gedämpft.
Er will den Draht nach Bonn intakt halten. Unter der Ägide Michail Gorbatschows müßte ihm dies leichter fallen als in der Siechtumsphase der Vorgänger, zumal die DDR die eigentliche Erfolgsstory im Ostblock liefert: Der Reformer im Kreml braucht sie. Das ZETTungs-Interview ist schwerlich anders zu verstehen denn als Signal zur Fortführung des Dialogs.
Was war Honeckers Botschaft? Sie läßt sich auf fünf Punkte verdichten.
1. Es bestehen noch viele ungenutzte Möglichkeiten, die politischen Beziehungen zu entwickeln.
2. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte noch weiter ausgebaut werden.
3. Über die Einbeziehung von Großstädten wie Hamburg oder Hannover in den kleinen Grenzverkehr läßt sich reden. Jugendaustausch und Reisen in dringenden Familienangelegenheiten sollen großzügig gehandhabt und ausgebaut werden. Ansonsten sind Illusionen fehl am Platze. Auf Städtepartnerschaften darf man keine übertriebene Hoffnung setzen. Einer Diskussion über allgemeine Reiseerleichterungen, vor allem eine Herabsetzung des Westreise-Alters, wich Honecker aus.
4. Die DDR ist neuerdings bereit, vereinbarte Abrüstungsmaßnahmen durch Kontrollen an Ort und Stelle überprüfen zu lassen: „Die Bundesregierung könnte unsere generelle Bereitschaft im Detail ausloten.“
5. Wenn die US-Mittelstreckenwaffen und die sowjetischen SS-20 aus Europa abgezogen werden, verschwinden auch die Atomraketen kürzerer Reichweite sofort wieder, die in der DDR gegen die Pershings und Cruise Missiles aufgestellt worden sind.
Kommt Erich Honecker 1986 in die Bundesrepublik? An Spekulationen darüber will sich der DDR-Staatsratsvorsitzende nicht beteiligen. Aber er vermittelt auch nicht den Eindruck, daß er den Besuch, der schon mehrmals hat verschoben werden müssen, in diesem Jahr für unmöglich hält.
Freilich: Vor dem sowjetischen Parteitag Ende Februar wird Honecker kaum reisen können; bis April muß er dann seinen eigenen Parteitag vorbereiten; Anfang Juni hat er die Volkskammerwahlen und eine Regierungsneubildung vor sich, kurz darauf wählt Niedersachsen; Ende Juni fangen die Sommerferien an; gleich danach beginnt der heiße Bundestagswahlkampf. Wenn der Terminkalender überhaupt eine Lücke läßt, so in der zweiten Junihälfte.
Es fügt sich, daß im Juni in Essen eine große DDR-Kunstausstellung eröffnet wird. Sie geht auf eine Absprache zwischen Berthold Beitz und Erich Honecker zurück. Wenn er will, kann der SED-Chef seinen Besuch in der Bundesrepublik um diesen Anlaß herum organisieren.
Ob er will, ist eine andere Frage. Das hängt nicht zuletzt auch von Bonn ab. Führen da wieder die Betonköpfe das große Wort: Deutschlands Zukunft hänge nicht von Herrn Honeckers Besuch ab? Wird eine SDI-Absprache mit Washington so forciert und so hochstilisiert, daß eine Bonn-Visite dem SED-Chef als Bündnisverrat angelastet würde? Sendet die Bundesregierung einige richtige Signale an Moskau, auch an Warschau? Oder verderben abermals Politiker-Auftritte bei Vertriebenentreffen das Klima? Ließen sich die zaghaften Denkansätze in puncto Elbgrenze und Erfassungsstelle Salzgitter nicht politisch ausbauen?
Erich Honecker wird nicht im April zurücktreten, wie es Londoner Gerüchtemacher glauben machen wollen. Im nächsten Jahr wird er 75. Es geht jetzt darum, die Weichen für die nächsten Jahre zu stellen – auch über Honecker hinaus, den deutschen Kommunisten, den deutschen Realisten. Insofern hängt von seinem Besuch in der Bundesrepublik für Deutschlands nächste Zukunft doch einiges ab.
Anmerkungen
Ist ihnen aufgefallen das von den 25 Antworten nicht mehr als 5 Punkte übrig geblieben sind? Was dort 1,5 Stunden gesprochen wurde, verpackte die Zeitung in einem Haufen belangloses Palaver, gewürzt mit Seitenhieben, Spekulationen und Unterstellungen. Und darauf wartete sie drei Jahre, wie sie so überaus wortreich betonte?
Dazu kommt
Auch die Spekulation das er abtreten würde wird nicht einmal sondern gleich zweimal wiederholt, als wolle man dem Leser das einreden. Alles in allem sind wohl locker mehr als 95% des Interviews von der Westpresse gestrichen worden.
Das nennt sich Pressefreiheit. Man nimmt sich die Freiheit alles zu streichen was nicht ins Bild der BRD passt, trotztdem kam so einiges durch, z.b. das „die DDR die eigentliche Erfolgsstory im Ostblock“ sei.
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