Yanis Varoufakis verwendet in seinem Buch die Metapher der Tribute an den Minotauros für seine zentrale Argumentation, dass seit dem Ende des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er Jahre der größte Teil der Gewinne der deutschen, chinesischen und japanischen Industrie aus Exportüberschüssen in die USA zurückgeflossen sei und damit die stetig wachsende Verschuldung der USA erst ermöglicht habe.
Das tatsächlich Gewinne in die USA abwandern, neudeutsch auch „investiert“ werden bzw. wurden und damit der eigenen Wirtschaft verloren gingen, belegen viele Studien. So wurden z.b. in Hollywood bedeutende Produktionen fast ausschliesslich mit Geldern finanziert, die ein Steuerschlupfloch nutzten und über diesen Weg in Steueroasen gelangten, was zum Wohlstand Weniger auf Kosten der Allgemeinheit in Deutschland führte. Die deutschen Gewinne verschwanden in einem schwarzen US-Loch, um bald darauf als Superyacht in den Bermudas ein teures Luxusspielzeug zu finanzieren, das im Jahr 2 Wochen genutzt wird.
Als Bretton-Woods-System wird die nach dem Zweiten Weltkrieg neu geschaffene internationale Währungsordnung mit Wechselkursbandbreiten bezeichnet, die vom US-Dollar als Ankerwährung bestimmt war. Die an seiner Organisation Beteiligten hatten angeblich versucht, ein System zu schaffen, welches die Vorteile eines flexiblen Wechselkurssystems mit denen eines festen – dem des US Dollars – vereint.
Die globale Finanzkrise hat viele Glaubenssätze der Ökonomie erschüttert. Bis heute ist es nicht gelungen, die entstandene Ratlosigkeit zu überwinden.
Nichts macht uns menschlicher als eine Aporie – der Zustand massiver Verwirrung, in den wir geraten, wenn unsere Gewissheiten zu Bruch gehen, wenn wir auf einmal in einer Sackgasse stecken, nicht mehr erklären können, was unsere Augen sehen, unsere Finger berühren, unsere Ohren hören. In diesen seltenen Momenten, in denen unsere Vernunft darum ringt zu begreifen, was die Sinnesorgane ihr melden, lässt unsere Verwirrung uns demütig werden und stellt den so vorbereiteten Geist auf bis dahin unerträgliche Wahrheiten ein.
Und wenn die Aporie ihr Netz sehr weit auswirft, sodass sich die ganze Menschheit darin verfängt, wissen wir, dass wir einen besonderen historischen Augenblick erleben. Der September 2008 war ein solcher Augenblick. Die Welt hatte sich gerade auf eine Weise selbst in Erstaunen versetzt, die es seit 1929 nicht mehr gegeben hatte. Gewissheiten, die eine jahrzehntelange Konditionierung uns eingebläut hatte, waren schlagartig weg, und mit ihnen Vermögenswerte im Wert von 40 Billionen Dollar weltweit, davon allein 14 Billionen Dollar Vermögen privater Haushalte in den Vereinigten Staaten, 700.000 Arbeitsplätze in den USA pro Monat, unzählige Häuser und Wohnungen überall, die ihre Besitzer nicht mehr halten konnten. Die Liste ist ebenso lang, wie die Zahlen unvorstellbar sind.
Die kollektive Aporie wurde durch die Reaktion der Regierungen noch verstärkt, die bis dahin unbeirrt den fiskalischen Konservatismus – die vielleicht letzte Massenideologie des 20. Jahrhunderts – hochgehalten hatten: Auf einmal schütteten sie Billionen von Dollar, Euro, Yen und so weiter in ein Finanzsystem, das noch wenige Monate zuvor glänzend gelaufen war, sagenhafte Gewinne angehäuft und behauptet hatte, den Goldtopf am Ende des globalisierten Regenbogens gefunden zu haben. Und als das nicht ausreichte, begannen unsere Präsidenten und Regierungschefs, Männer und Frauen mit untadeligen neoliberalen Überzeugungen, die Staatsinterventionismus ablehnten, mit einem Eifer, der Lenins Großtaten nach 1917 in den Schatten stellte, Banken, Versicherungen und Autohersteller zu verstaatlichen.
Die verheerenden Folgen der Krise
Im Gegensatz zu früheren Krisen – wie dem Platzen der Dotcom-Blase 2001, der Rezession von 1991, dem Schwarzen Montag, dem Debakel in Lateinamerika in den 1980er-Jahren, dem Abgleiten der Dritten Welt in eine tückische Schuldenfalle und sogar der verheerenden Depression in Großbritannien und Teilen der Vereinigten Staaten in den 1980er-Jahren – war die Krise von 2008 nicht auf eine geografische Region, eine soziale Schicht oder bestimmte Branchen beschränkt. Alle Krisen vor 2008 waren in gewisser Weise lokal begrenzt gewesen.
Diejenigen, die langfristig unter ihnen litten, hatten für die amtierenden Mächte meist keinerlei Bedeutung, und wenn doch auch die Mächtigen den Schock spürten, eilten die Behörden rasch und wirksam zu Hilfe. Demgegenüber hatte der Crash von 2008 sowohl global wie im neoliberalen Kernland verheerende Folgen. Mehr noch: Seine Folgen werden uns noch sehr, sehr lange begleiten.
Geistige Trägheit wich ängstlichen Zweifeln
In Großbritannien war dies wahrscheinlich die erste Krise seit Menschengedenken, die die reicheren Regionen im Süden traf. In den Vereinigten Staaten hatte die Subprime-Krise zwar in den alles andere als reichen Gebieten dieses großen Landes begonnen, erfasste aber nach und nach auch die letzten Schlupfwinkel der privilegierten Mittelschicht mit ihren bewachten Wohnanlagen, ihren grünen Vorstädten, ihren Eliteuniversitäten, an denen sich die Wohlhabenden versammeln und für die höheren soziökonomischen Positionen in Stellung bringen.
In Europa hallt der gesamte Kontinent vom Getöse einer Krise wider, die nicht vergehen will und europäische Illusionen bedroht, die sechs Jahrzehnte unerschüttert überstanden hatten. Migrationsströme kehrten sich um, als polnische und irische Arbeiter Dublin und London verließen und nach Warschau oder Melbourne zogen. Selbst China , das wundersamerweise mit einer gesunden Wachstumsrate der Rezession entging, als weltweit die Wirtschaft schrumpfte, steckt in der Klemme, weil der Konsumanteil seines Volkseinkommens zurückgeht und der hohe Anteil staatlicher Investitionsprojekte eine gefährliche Blase nährt – zwei Omen, die nichts Gutes verheißen in einer Zeit, in der fraglich ist, ob der Rest der Welt langfristig Chinas Exportüberschüsse aufnehmen kann.
Zu der allgemeinen Aporie kommt noch hinzu, dass die Großen und Mächtigen zugeben müssen, dass auch sie von den neuen Wendungen der Realität überfordert sind. Im Oktober 2008 bekannte Alan Greenspan , der ehemalige Chef der amerikanischen Notenbank (Fed), der lange als moderner Merlin galt, er sehe „einen Fehler in dem Modell, dass ich für die entscheidende Struktur gehalten habe, die festlegt, wie die Welt funktioniert“.
Die Welt im Schockzustand
Zwei Monate später sagte Larry Summers, ehemals Finanzminister in der Regierung Clinton und später oberster Wirtschaftsberater des gewählten Präsidenten Obama , „in dieser Krise ist es riskanter, zu wenig zu tun, als zu viel zu tun“. Wenn der Große Zauberer einräumt, dass seine ganze Magie auf einem fehlerhaften Modell basiert, wie die Welt funktioniert, und der ranghöchste Wirtschaftsberater des Präsidenten dazu rät, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen, kapiert auch die Öffentlichkeit, was los ist: Unser Schiff steuert in trügerische, unbekannte Gewässer, die Crew ist ratlos, der Kapitän in Panik.
Und so sind wir in einen Zustand der greifbaren, allgemeinen Aporie geraten. Geistige Trägheit wich ängstlichen Zweifeln. Die Entscheidungsträger scheinen ihrer Entscheidungsgewalt beraubt. Die Politik hangelt sich von einem Tag zum nächsten. Beinahe sofort hat eine verwirrte Öffentlichkeit ihre Antennen in alle Richtungen ausgefahren, verzweifelt bemüht, Erklärungen für die Vorgänge und ihre Ursachen zu finden. Wie um zu beweisen, dass das Angebot nicht stimuliert werden muss, wenn die Nachfrage reichlich vorhanden ist, legte nun auch die Presse los. Bücher, Aufsätze, Essays, sogar Filme kamen heraus und erzeugten eine Flut von Erklärungen, was schiefgegangen war. Doch auch wenn in einer Welt im Schockzustand immer eine Fülle von Theorien über ihre Notlage heranreifen, garantiert die Überproduktion von Erklärungen noch keine Lösung der Aporie.
Dieser Text ist ein Auszug aus:
Yanis Varoufakis: Der globale Minotaurus, Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft
Verlag Antje Kunstmann, 2012, 288 Seiten, 17,95 Euro, ISBN 978-3-88897-754-1
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Der globale Minotaurus – Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft
In einem provozierenden Buch von großer analytischer Klarheit und Überzeugungskraft stellt Yanis Varoufakis die Diskussion über die Wirtschaftskrise vom Kopf auf die Füße. Er macht ihre historischen Entstehungsbedingungen deutlich und zeigt Wege zu ihrer Überwindung auf.
Globalisierung, Gier und fehlende Bankenregulierung – sie alle wurden für die Krise der Weltwirtschaft verantwortlich gemacht. In Wahrheit sind dies nur Nebenschauplätze eines weit größeren Dramas. Eines Dramas, das in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wurzelt und bereits seit den 1970-Jahren auf offener Bühne spielt: als die Welt wider besseres Wissen begann, mit ihrem Geld den “Globalen Minotaurus” Amerika zu nähren – so wie einst die Athener dem mythischen Fabeltier auf Kreta Tribute zollten. Heute sind die USA, als Stabilisator der Weltwirtschaft, selbst nachhaltig geschwächt, und die Konsequenzen des Machtvakuums zeigen sich allerorten.
Sie machen vor allem eines klar: Stabilität in der Weltwirtschaft ist nicht umsonst zu haben; sie erfordert historische Entscheidungen – wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Hegemonialstellung Amerikas begann. Statt hektischer Rettungsaktionen mit immer kürzerem Verfallsdatum ist eine grundlegende Debatte über Stabilitätspolitik, ist ein Neuanfang unvermeidlich.
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