Demokratie nach Art der Schweizer
Da wir ja die amerikanische Demokratie erklärt haben hier mal ein Versuch die Schweizer Demokratie zu erklären.
Das förderalistische Prinzip
In der Schweiz gehören Föderalismus und Subsidiarität (Hilfe, Reserve) zu den Grundprinzipien des Bundesstaates seit seiner Gründung 1848.
Hauptgedanke ist, wenn möglich Verantwortung an kleinere Strukturen zu übertragen, wo die Nähe zu den Betroffenen grösser ist: vom Bund an die Kantone, von den Kantonen an die Gemeinden.
Das führt im Idealfall zu Gesetzen und Regelungen, die auf lokale Bedürfnisse zugeschnitten sind, was einerseits deren Akzeptanz erhöhen und anderseits eine fruchtbare Konkurrenz zwischen Kantonen und Gemeinden um niedrigere Steuern, effizientere öffentliche Verwaltung und andere Standortvorteile bewirken soll.
Allerdings erhöht sich im Vergleich zum zentralistischen Staat, unter der Annahme in sich gleich effizient organisierter Strukturen, dadurch der Regierungs- und Verwaltungsaufwand, führen die Unterschiede in den Rechtssystemen zu zusätzlichen Kosten für Bürger und Unternehmen und werden Wohnortwechsel dadurch erschwert
(z. B. Wechsel des kantonal geregelten Schulsystems).
Der diesem Prinzip zugrundeliegende Artikel der Bundesverfassung lautet:
Art. 3 Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist;
sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.
Die Glied- oder Teilstaaten der Schweiz verfügen also über voll ausgebaute staatliche Strukturen und damit über eigene politische Institutionen für die Exekutive (Gesetzausführung), die Legislative (Gesetzgebung) und die Judikative(Gerichtsbarkeit).
Hierin entspricht der schweizerische Föderalismus demjenigen Deutschlands und der Vereinigten Staaten von Amerika, die ebenfalls historisch von unten nach oben aufgebaut worden sind, unterscheidet sich aber vom Föderalismus in Ländern wie Österreich oder Belgien, die zuerst ein Einheitsstaat waren, bevor sie föderalisiert wurden, und deren Teilstaaten nur eine unvollständige Staatlichkeit kennen, indem die Judikative eine Angelegenheit des Zentralstaats geblieben ist.
politisches System Schweiz
Die Frage, ob der Föderalismus der Schweiz mehr Vor- oder Nachteile bringt, führt fast zwangsläufig zu ideologischen Diskussionen, da direkte Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Der Föderalismus hat Auswirkungen, die je nach Standpunkt als Vor- oder als Nachteil angesehen werden.
Die Schweiz zählt 26 Kantone und Halbkantone. In der untenstehenden Abbildung sind zusätzlich die zehn bevölkerungsmässig grössten Schweizer Städte enthalten: Zürich, Genf, Basel, Lausanne, Bern, Winterthur, St. Gallen, Luzern, Lugano und Biel.
Gerade bei Abstimmungen (Ständemehr), bei Politikfragen mit urbanem Bezug und im Hinblick auf die Vertretung im Ständerat wird die Rolle und Bedeutung der Städte immer wieder mal kontrovers diskutiert. Aktuell haben die Städte keine Vertretung im Ständerat und ihre politische Meinung geht nicht direkt ins Ständemehr ein. Schweizer Gemeinden mit städtischem Charakter haben sich im Schweizerischen Städteverband zusammengeschlossen, um ihre Interessen zu vertreten.
Das Balkendiagramm (links) zeigt die jeweilige Anzahl Einwohnerinnen und Einwohner. Für Kantone, welche eine der zehn grössten Städte beherbergen, bezieht sich die Bevölkerungszahl nur auf die Fläche ausserhalb der Stadt. Der Halbkanton Basel-Stadt wird als ganzes als städtisch ausgewiesen. Die Bevölkerungszahl bezieht sich aber nicht nur auf die Stadt Basel sondern auf die Gesamtfläche von Basel-Stadt.
Die verzerrte Schweizerkarte (oben rechts) in der Darstellung ist ein sogenanntes Kartogramm. Zur Erzeugung des Kartogramms wurden die Umrisse der Kantone und Städte so verzerrt, dass ihre Fläche jeweils repräsentativ für ihre Bevölkerungszahl ist. Beispielsweise erscheint der Kanton Graubünden in dieser Darstellung wegen der verhältnissmässig geringen Bevölkerungszahl relativ klein, während die Stadt Bern deutlich mehr Raum einnimmmt als auf der gewöhnlichen Schweizerkarte. Jedes der kleinen Sechsecke im Kartogramm entspricht etwas mehr als 3’000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die unverzerrte Schweizerkarte (unten rechts) dient der Orientierung.
Insbesondere angesichts der anhaltenden Wachstumsprobleme der Schweiz und der weltweit immer grossräumiger werdenden politischen und insbesondere wirtschaftlichen Strukturen (Beispiele sind der Integrationsprozess in Europa, die Globalisierung, die Reduktion von Zöllen und die wirtschaftliche Liberalisierung weltweit) wächst auch in der Schweiz der Druck nach einer Reform der föderalen Struktur der Schweiz. Gleichzeitig können die föderale Struktur und ihre Auswirkungen auf Bürgernähe und innerföderaler Wettbewerb eine Stärke der Schweiz sein.
Föderalismus ist Voraussetzung der Subsidiarität. Er hat dadurch direkte Auswirkungen auf die Beziehung der Bevölkerung zu ihrem Staat:
Entscheide (Entscheidungen) werden tendenziell in Gebietskörperschaften getroffen, die näher bei den Menschen stehen.
Es entsteht eine unmittelbare Verantwortlichkeit der Gemeinwesen für mehrere Politikbereiche.
Entscheide (Entscheidungen) werden tendenziell den lokalen Verhältnissen eher gerecht und damit auch besser akzeptiert.
Es entsteht ein Wettbewerb zwischen den Gemeinwesen um politische Ideen, deren konkrete Ausgestaltung und um steuerkräftige Individuen und Organisationen.
16 Jahre nach der grossen Dabatte über die “Tripolarität der schweizerischen Parteienlandschaft” ist die damalige Erwartung heute Realität geworden. Die Mitgliederstärke der neuen Mitte-Fraktionen reicht trotz nicht, um die Mehrheit alleine zu bestimmen; sie machen von den veränderten Spielmöglichkeiten jedoch Gebrauch, und sie haben den Schwerpunkt erfolgreicher Allianzen von rechts der Mitte zu verlagert.
Wie oft wird eine erfolgreiche Allianz ohne eine bestimmte Partei gebildet, ist nämlich die entscheidende Frage. Die Antwort lautet: In 51 Prozent der Fälle entscheidet der neue Nationalrat ohne die SVP-Fraktion, 42 Prozent ohne die SP-Fraktion, 20 ohne die FDP-Fraktion und 7 Prozent ohne die CVP-Fraktion. Steigend ist der Anteil von Allianzen ohne SVP (Mittelstand), aber auch ohne FDP(Liberale), stabil sind solche ohne CVP(Christen), leicht sinkend solche SP (Sozialdemokraten).
Ueber Schweizer Nationalratswahlen weiss die Wahlforschung recht gut Bescheid. Ganz anders ist das bei Ständeratswahlen: Schon die amtlichen Statistiken des Bundes sind spärlich, zählt man das doch zu den kantonalen Aufgaben, die uneinheitlich verfahren. Und die akademische Wahlforschung hat sich dem Thema nur sehr zurückhaltend angenommen. Zeit, um das grösseres Loch im Wissen über Schweizer Wahlen zu füllen!
Das sozialpsychologische Konzept der Normalwahl eröffnete eine durchaus sinnvolle Angehensweise für Ständeratswahlen. Es unterscheidet zwischen lang- und kurzfristigen Faktoren der Wahlentscheidung. Die Langfristigkeit ergibt sich aus der Sozialstruktur und ihren Auswirkungen auf Parteien. Erwartet wird, dass so die Hausmacht der KandidatInnen entsteht. Kurzfristig auf den Wahlerfolg wirken sich das Personenimage und die Themenpositionen aus, die im Wahlkampf eine herausragende Rolle spielen.
Gemäss der Normalwahlanalyse gewinnt der oder die KandidatIn, welche die grösste Hausmacht hat. Ergibt sich diese nicht aus der eigenen Partei heraus, geht es um Wahlabsprachen zwischen verwandten Parteien. Bei Ständeratswahlen in der Schweiz beginnen hier die taktischen Ueberlegungen. Welche Parteien sind wie gut motiviert, ihre WählerInnen zu beteiligen und wie gut sind die KandidatInnen in den Allianzparteien akzeptiert.
Damit ist man bei den Wahlkämpfen der KandidatInnen. Ihre Verankerung in der politischen Welt, die Kennzeichnung als Bisherige, die Auftritte in den lokalen Medien, die Erfahrung der Wahlkampfstäbe und die gewählten Kommunikationsstrategien sind hier die wichtigsten Determinanten.
Nicht zu übersehen ist, dass bei Ständeratswahlen (anders als bei amerikanischen Präsidentschaftswahlen) meist nicht ein Wahlgang alleine entscheidet. Im ersten werden deshalb die Ausgangspositionen innerhalb des Lagers bestimmt, um die FavoritInnen in eine möglichst günstige Lage zubringen, während im zweiten Wahlgang die eigentlich Ballotage stattfindet.
Fazit:
Letztendlich ergibt sich daraus das auch die Schweizer Politik nach Rechts tendiert und die Konservativen Politiker überwiegen. Damit reiht sich die Schweizer Politik in das Bild aller Demokratien Europas ein, die zunehmend im Europäischem Trend nach Rechts unter Vorherrschaft christlicher Parteien tentieren, die ähnlich wie in Deutschland der Ministerrat, auch in der Schweiz den Ständerat anführt.
Im Schweizer Modell sind zwar grundsätzlich mehrere Parteien und damit auch mehr Koalitionen möglich und mehr Wahlmöglichkeiten für Bürger, aber wenn die Frage im Raum steht, schliesst sich der Mittelstand und die Liberalen den Konservativen an, sodaß hier eine Mehrheit entsteht.
Damit folgt dieses Modell langfristig der gleichen Entwicklung wie z.B. die Bundesrepublik. Es ist nur nicht offen ersichtlich, da hier die linke Position von der Sozialdemokratie besetzt wird. Diese hat 2011 verloren und wird wohl auch weiterhin verlieren. Desweiteren fehlt ihr die Kraft der ganzen Grünen, die in liberale und soziale Lager aufgespalten sind. Auch hier folgen die Liberalen Grünen dem Mittelstand und damit dem Rechtem Lager.
Die Schweiz ist also bereits seit 2007 politisch im rechten Lager neoliberaler Politik angekommen, auch wenn das von Schweizern naturgemäß selbst anders beurteilt wird und dieser Prozess durch das Schweizer Modell etwas verzögert auf den Europäischen Trend reagiert. Das Schweizer Parteienmodell realisiert keine ausgewogene Demokratie, was angesichts der überschwappenden Medienmeinungen auch nicht verwunderlich ist. Die Schweiz hat zudem mit speziellen Problemen zu kämpfen die sich aus der Zersplitterung ergeben. Daraus ergeben sich arme und reiche Kantone, sodaß dieses Ungleichgewicht zu erheblichen Spannungen führt.
Es stellen sich im konkreten Fall der Schweiz unter anderem folgende Fragen:
Die Kantone
Jeder Kanton hat eine eigene Verfassung und eigene gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Behörden. Alle Kantone besitzen ein Einkammer-Parlament (Grosser Rat, Kantonsrat, Landrat, Parlament; siehe auch: Kantonsparlament). Dieses hat je nach Kanton 49 bis 180 Parlamentssitze. Die Kantonsregierung (Regierungsrat, Regierung, Staatsrat, Standeskommission) besteht je nach Kanton aus fünf oder sieben Mitgliedern. In jedem Kanton existiert schliesslich ein zweistufiges Gerichtssystem (erste Instanz: Bezirksgericht, Amtsgericht, Kantonsgericht, Kreisgericht, Landgericht, Regionalgericht, Strafgericht, Zivilgericht; zweite Instanz: Obergericht, Kantonsgericht, Appellationsgericht), dem eine Schlichtungsbehörde (Friedensrichteramt, Vermittleramt) vorangestellt ist.
Alle staatlichen Bereiche, die nicht von der schweizerischen Bundesverfassung dem Bund zugewiesen bzw. von einem Bundesgesetz geregelt werden, gehören in die Kompetenz der Kantone (staatliche Organisation, Schulwesen, teilweise Gesundheitswesen, Sozialhilfe, teilweise Planungsrecht, Baurecht, Polizeiwesen, teilweise Gerichtsverfassung, Notariatswesen, kantonales und kommunales Steuerrecht und andere). Bei mehreren der erwähnten Bereiche hat der Bund ebenfalls grosse Kompetenzen, sodass oft ein Kompetenzkonflikt festzustellen ist. Kantone können innerhalb ihrer Kompetenzen Staatsverträge untereinander (sog. Konkordate) oder mit fremden Staaten schliessen und sind so wie die deutschen Länder derivative Völkerrechtssubjekte.
Die Kantone ihrerseits können auch ihren Gemeinden eine gewisse Autonomie gewähren. Das Ausmass der Gemeindekompetenzen ist von Kanton zu Kanton verschieden.
In zwei Kantonen – Glarus sowie Appenzell Innerrhoden – bestimmt das Volk während einer Versammlung aller Bürger, der Landsgemeinde, seine Kantonsvertreter und entscheidet über Sachfragen. In allen anderen Kantonen finden Wahlen und Abstimmungen an der Urne statt.
Kantonale Probleme sind:
Es entstehen kostspielige und unnötige Mehrspurigkeiten in der kantonalen Verwaltung. Für eine teilweise sehr geringe Bevölkerungsanzahl (im Extremfall 15’000 Einwohner im Kanton Appenzell Innerrhoden) muss eine eigenständige kantonale Verwaltung gewährleistet und finanziert werden. Dies führt dazu, dass die öffentliche Verwaltung oft zu klein und zu wenig spezialisiert ist und auch wenig Ressourcen für effizient (weil grossräumig) durchgeführte Reformen der kantonalen Verwaltung aufbringen kann. Erst in jüngster Zeit wächst die Bereitschaft, bestimmte Aufgaben der öffentlichen Verwaltung insbesondere in neuen Aufgabenbereichen nicht mehr von einzelnen Kantonen im Alleingang, sondern von mehreren Kantonen gemeinsam zu erbringen. Die Zusammenarbeit basiert im Wesentlichen auf vertraglichen Abmachungen zwischen Gemeinwesen. Damit wird auf eine pragmatische und begrenzte Weise kantonale Zusammenarbeit erprobt.
Das Ständemehr
Das Ständemehr besagt, dass wichtige Gesetzesänderungen (z.B. Änderungen an der Verfassung) nur möglich sind, wenn die Mehrheit der Abstimmenden (Volksmehr) und die Mehrheit der Kantone (Ständemehr) der Änderung zustimmen.
Konkret heißt das: Es kann zu Situationen kommen, wo die Mehrheit der Abstimmenden eine Vorlage befürwortet, sie aber dennoch abgelehnt wird, weil keine Mehrheit der Kantone sie angenommen hat.
Dieses föderalistische Prinzip ist sehr demokratisch. Demokratie bedeutet nicht, dass die Mehrheit über Minderheiten bestimmt, sondern dass Minderheiten den Ausgang von Abstimmungen akzeptieren (sie könnten sich ja auch abspalten) – und das tun sie genau dann, wenn sie geschützt werden.
Nun ist die Basis des Ständemehrs die Vorstellung, die Schweiz bestehe aus 26 oder 23 eigenständigen Gemeinschaften, die in einigen Geschäften gemeinsame Beschlüsse fassten. Die Einteilung der Kantone hat sich historisch ergeben. Sie ist aber mittlerweile überholt und widersprüchlich geworden. Das sieht man an der Rolle der Städte: Während die zweitgrößte Stadt Genf ein eigener Kanton ist, also als ganzer Stand zum Ständemehr beiträgt, ist die drittgrößte Stadt Basel und ein Halbkanton und trägt halb zum Ständemehr bei, die größte (Zürich) und sechstgrößte Stadt (Winterthur) gehören zusammen zu einem Kanton, obwohl in Winterthur allein mehr Menschen leben als in vier Kantonen und vier Halbkantonen.
Die politische Landschaft ist in der Schweiz heute zwischen städtischen und ländlichen Regionen gespalten. Es wird bedeutsam sein, föderalistische Strukturen an diese Tatsache anzupassen. Ein einfaches Mittel wäre es, den Städten Zürich, Bern, Lausanne und Winterthur den Status eines Halbkantons zukommen zu lassen – ihnen also einen Ständerat zuzusprechen, sie mit einem halben Punkt ins Ständemehr einzurechnen und ihnen eventuell auch politische Autonomie in kantonalen Angelegenheiten zu verleihen.
Das Ständemehr ist nicht das Problem, sondern die Definition der Stände.
Wie fühlt es sich an, 2014 in einem reichen Land wie der Schweiz arm zu sein, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein? Ein andauernder Streit über die Höhe von Unterstützungsbeiträgen lenkt das Augenmerk auf Sozialhilfe-Standards und Möglichkeiten, das derzeitige System zu verbessern.
Das Leben meinte es nicht gut mit Maria C. Sie wuchs in einem Bauerndorf ausserhalb von Zürich auf, als Kind einer Immigrantin, welche die lokale Sprache kaum sprach. Als sie dreijährig war, starb ihr Schweizer Vater. Darauf wurde sie bis sie 11 Jahre alt war in verschiedene Heime gesteckt, als schwach bildungsfähig eingestuft und in die Sonderschule geschickt.
„Wir waren arm und wurden ständig gehänselt von den anderen Kindern, ich habe die Hölle durchgemacht“, erklärt die heute 50-jährige Frau. Maria, dunkle Haare, dunkle Augen, sieht traurig und ernst aus; sie setzt sich auf das Second-Hand-Sofa und stützt ihr linkes, arthritisches Knie leicht auf.
Es ist eine gepflegt eingerichtete Zweizimmerwohnung am Stadtrand von Biel. Sie giesst Pfefferminztee ein, steckt sich eine selbstgerollte Zigarette an. An den Wänden hängen gerahmte Bilder und Fotografien.
„Arm zu sein und von der Sozialhilfe zu leben heisst für mich, mit etwa 1000 Franken im Monat zu leben. Das ist nicht einfach, obwohl ich sehr bescheiden bin. Ferien kenne ich eigentlich seit meiner Kindheit nicht“, sagt sie.
Ihre Stelle als Sozialarbeiterin in einem Heim für ehemalige Drogenkranke und Obdachlose hatte Maria nach einem Unfall verloren. Wegen Schmerzen in ihrem Knie hatte sie die Teilzeitstelle aufgeben müssen.
Seit August 2012 ist sie auf Sozialhilfe angewiesen und hat sich mit kleinen Jobs durchgeschlagen.
Unterschiede
Maria ist eine von mehr als 250’000 Personen, die in der Schweiz Sozialhilfe erhalten. Das sind gut 3% der Bevölkerung, eine Zahl, die sich seit den 1990er-Jahren verdoppelt hat, im Lauf der letzten Jahre aber stabil geblieben ist.
„Nicht alle, die arm sind, beantragen auch Sozialhilfe“, bekräftigt Dorothee Guggisberg, Direktorin der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKoS), des Fachverbands, der sich für die Anliegen der Sozialhilfe in der Schweiz engagiert.
Je nach Berechnungsmethode gelten 7-8% der Bevölkerung in der Schweiz als arm. Vergleiche mit anderen Ländern sind praktisch unmöglich, weil die Daten zu vielfältig, zu unterschiedlich sind.
Guggisberg erklärt, auch innerhalb der Schweiz gebe es zwischen ländlichen und urbanen Regionen grosse Unterschiede. Zudem nutzten die Sozialhilfebehörden nicht die gleichen Kriterien zur Definition von Armut, wie die für die Sozialversicherungen zuständigen Behörden.
„Die Schweiz hat ein sehr gut ausgebautes Sozialwesen, und sie kann es sich leisten. Das ist ein zentraler Faktor für die Stabilität der Schweiz. Wenn es sehr viele Leute gibt, die unter einem tiefen Existenzminimum leben, kann das auch eine soziale Bombe sein.“
Da es in der Schweiz bis heute kein nationales Rahmengesetz zur Sozialhilfe gibt, hat die SKoS Richtlinien für die 26 Kantone und fast 2400 Gemeinden erarbeitet, die für Sozialhilfebelange zuständig sind.
Leben in Armut
Das föderale System der Schweiz erteilt den Kantonen weitreichende Autonomie, und es gibt keine einheitlichen Definitionen für Armut und Sozialhilfe-Standards.
Nach Angaben des Bundesamts für Statistik leben rund 580’000 Menschen in der Schweiz unterhalb der offiziellen Armutsgrenze von 2250 Franken pro Monat für Einzelpersonen und 4050 Franken für Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren.
Das entspricht etwa 7,5% der Bevölkerung von mehr als 8 Millionen.
Hinweis der Redaktion:Die jüngsten vorliegenden Zahlen 2014 zeigen, dass gut 250’000 Personen Sozialhilfe beziehen – in den vergangenen Jahren ein Durchschnitt von 3,1% der Gesamtbevölkerung.
Es gibt beträchtliche Unterschiede zwischen ländlichen und urbanen Regionen. Alleinerziehende machen den grössten Anteil unter den Sozialhilfebezügern aus, gefolgt von Alleinstehenden und Leuten ohne Berufsabschluss.
Mit der empfohlenen minimalen Sozialhilfe soll der Grundbedarf gedeckt werden können, das heisst: Lebensmittel, Hygieneartikel, Transport und Kommunikation.
Anmerkung der Redation
Wie man sieht, hat sich die Zahl der Armen 2005 von 8,5 auf 3,1% von 2014 verringert, merkwürdigerweise bei etwa gleicher Anzahl Personen die Sozialhilfe beziehen. Leider wurden die Schweizer nicht mehr. Dafür die Berechnungsarten für Armut. An Zuwanderung kann es als nicht liegen. Auch hier wirken offenbar die Wunder der Statistik indem man einfach die Parameter ändert, man senkt das Einkommen.
Warenkorb
Ausgehend von einem Warenkorb, der sich auf das Konsumverhalten der einkommensschwächsten 10% der Bevölkerung stützt, berechnet die SKoS, dass es zur Deckung des Grundbedarfs einen Betrag von 986 Franken pro Monat für eine Einzelperson brauche.
„Unsere Verfassung sagt, dass in der Schweiz jeder Bürger, jede Bürgerin ein Leben in Würde soll leben können. Das Geld deckt den Grundbedarf ab – das sind Lebensmittel, Hygieneartikel, Transport und Kommunikation – Dinge, die das tägliche Leben abverlangt“, erklärt Guggisberg.
Nicht eingeschlossen darin seien die Kosten für eine Wohnung oder ein Zimmer sowie die obligatorische Krankenversicherung.
„Es ist eine Errungenschaft, ein soziales Existenzminimum zu haben. In der Schweiz haben wir keine Leute, die unter Brücken schlafen. Es gibt keine Elendsviertel, wo Sie nachts nicht durchgehen können“, sagt Guggisberg.
Der Streit über Sozialhilfestandards spitzte sich im vergangenen Jahr zu, nachdem ein Gericht gegen eine lokale Behörde entschieden hatte, die einem Sozialhilfeempfänger die Leistungen streichen wollte.
Darauf entschieden vier Gemeinden, den Dachverband zu verlassen, dem staatliche und private Sozialhilfe-Institutionen und Vereinigungen angehören, darunter alle Kantone.
Unter dem Druck öffentlicher Ausgabenkürzungen in den Gemeinden und begleitet von grossen Schlagzeilen in den Medien, reagierte die SKoS mit der Ankündigung einer Reihe von Reformen. Und Guggisberg sagt, die Kritik werde ernst genommen.
Besonders harsche Kritik an der Sozialhilfe-Konferenz und dem derzeitigen staatlichen Engagement kommt aus dem Liberalen Institut in Zürich. Pierre Bessard, der Direktor dieser Denkfabrik, lancierte letzten Dezember in der Neuen Zürcher Zeitung einen Frontalangriff.
Er beschrieb das Schweizer Sozialhilfewesen als „Rückschritt für unsere Zivilgesellschaft“ und forderte eine Privatisierung und Dezentralisierung der Sozialhilfe, die er als zu grosszügig betrachtet.
„Das System institutionalisiert eine unangemessene und schädliche Anspruchsmentalität. Es belastest die Helfenden über Gebühr.“
„Die Lobbies des Sozialsektors bemühen sich ständig, die Definition der Armut auszuweiten“, sagt Bessard. „Sie stellen neue Regeln auf. Es fehlen aber die Anreize, den Lebensunterhalt selbständig zu verdienen. Das führt in die sozialstaatliche Abhängigkeit.“
„Nachbarschaftliche, karitative und lokale Unterstützung kann persönliche Bedürfnisse effizienter befriedigen“, sagt er abschliessend.
Zwar ist auch der Wirtschaftswissenschafter und Autor Rudolf Strahm dem Sozialhilfesystem gegenüber kritisch eingestellt, ist aber weit davon entfernt, Bessard zu unterstützen.
„Mangelnde Ausbildung ist ein grosses Armutsrisiko, besonders für Junge und Leute mit Migrationshintergrund. Wer keine Lehre gemacht hat, wird dreimal wahrscheinlicher Sozialhilfebezüger werden als Leute mit einem Lehrabschluss.“
Und alleinerziehende Eltern seien oft mit ungenügenden Angeboten zur Kinderbetreuung konfrontiert, erklärt Strahm, ein ehemaliger sozialdemokratischer Parlamentarier und Verfechter des dualen Bildungssystems, einer Kombination von Ausbildung in einem Betrieb und einer Berufsfachschule.
Strahm kritisiert jedoch auch die derzeitige Berufsausbildung von Sozialarbeitern. Den Studierenden werde beigebracht, darauf zu fokussieren, ihre Kunden in das Sozialhilfesystem einzufügen statt Bemühungen zu fördern, die Leute in den Arbeitsmarkt zu integrieren. „Man blendet Drückeberger zu schnell aus.“
Maria ist es gewohnt, für ihre Ausbildung zu kämpfen. Als sie um die vierzig war, qualifizierte sie sich für eine Ausbildung an einer Schule für Sozialarbeit und hatte danach mehrere Jahre eine Stelle in der Branche.
Sie hat wenig mehr als Verachtung übrig für die grundlegende Kritik Bessards am Sozialhilfewesen.
„Diese neo-liberalen Ideen sind nicht viel mehr als ein schlechter Witz auf Kosten der Bedürftigen“, sagt Maria. „Es braucht Sündenböcke für die Reichen, die immer reicher werden.“
„Das System hier hat mich alt und grau gemacht. Manchmal stand ich kurz vor dem Suizid. Ich konnte fast nicht mehr klar denken und schreiben.“
Nun steigt sie aus dem Sozialhilfesystem aus und dreht Biel den Rücken. Ihre Wohnung wurde verkauft, sie wird auf die Strasse gesetzt. Jetzt verlässt sie die Schweiz für eine Weile – und geht nach Portugal, wo ihre Mutter herkam.
In Portugal gebe es ein stärkeres Solidaritätsgefühl, einen besseren Zusammenhalt, Arme würden nicht verjagt, Betteln sei erlaubt, sagt sie. „Sollte ich einmal obdachlos werden, dann sicher nicht in der Schweiz.“
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