Armut wächst in Deutschland schneller als sonst irgendwo in der EU
Ralf Wurzbacher und die Junge Welt bringen es mal wieder auf den Punkt, daher zitieren wir auch den folgenden Artikel, zum Wohle jener die vom Model Germany zugern vergessen werden – gemeint ist das Volk, nicht der Geldadel der sich auf unsere Kosten bereichert.
Deutschland ist europäischer Spitzenreiter bei der Ausbreitung von Armut. Im Zeitraum zwischen 2004 und 2009 sind in keinem anderen EU-Staat die existentiellen Nöte bei Erwerbstätigen und Arbeitslosen rascher gewachsen als hierzulande.
So lautet das Ergebnis einer Untersuchung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, über die in der aktuellen Ausgabe der Verbandszeitschrift Impuls berichtet wird. Für den Sozialwissenschaftler Eric Seils ist die Entwicklung ursächlich verbunden mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetzgebung, die seinerzeit im Rahmen der »Agenda 2010« von der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) ins Werk gesetzt wurde. Seither hat sich vor allem die Lage der Erwerbslosen drastisch verschlechtert von ihnen lebten vor drei Jahren fast drei Viertel unterhalb der Armutsgrenze.
Im Rahmen seiner für das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Böckler-Stiftung erstellten Studie »Beschäftigungswunder und Armut. Deutschland im internationalen Vergleich« hat Seils die neuesten verfügbaren Daten der EU-Statistikbehörde Eurostat ausgewertet. Im Jahr 2009 waren demnach 7,1 Prozent der Erwerbstätigen in der BRD von Arbeitsarmut betroffen. Obwohl in Lohn und Brot stehend, hatten sie weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung. Der Wert markiert die gängige wissenschaftliche Armutsgrenze, die in Deutschland für einen Alleinstehenden bei 940 Euro monatlich liegt. 2004, dem letzten Jahr vor Inkrafttreten von Hartz IV, lag die Quote der sogenannten Working-Poor noch bei 4,9 Prozent.
Mit diesem Zuwachs belegt die Bundesrepublik gemeinsam mit Spanien den beschämenden ersten Rang unter den 27 EU-Staaten. Im Durchschnitt der Gemeinschaft legte die Armutsrate unter den Beschäftigten nur um 0,2 Prozent zu, in elf Staaten gingen die Quoten sogar zurück, angefangen bei Tschechien (– 0,5 Prozent) über Portugal (– 2 Prozent) bis hin zu Ungarn (- 3,5 Prozent). Der überdurchschnittliche Anstieg hat Deutschland nach Seils’ Berechnungen in kurzer Zeit ins europäische Mittelfeld in punkto Arbeitsarmut katapultiert. Anfang des neuen Jahrtausends sei das Problem hierzulande noch »vergleichsweise selten« gewesen.
Der Sozialforscher schreibt in seiner Untersuchung über »das deutsche Paradox«. Einerseits wären die Beschäftigtenzahlen seit 2004 kräftig angestiegen und die Erwerbslosigkeit deutlich gesunken. Dafür hätte die Bevölkerung aber »mit einem hohen sozialen Preis« bezahlen müssen. In noch größerem Ausmaß als die Erwerbstätigen, die in zunehmender Zahl trotz Arbeit in die Armut abrutschen, sind die Menschen ohne Job im Zuge der »Hartz-Reformen« in Not geraten. Nach Seils Befunden ist die Armutsquote unter den Erwerbslosen zwischen 2004 und 2009 um satte 29 Prozentpunkte hochgeschnellt, während es im EU-Mittel lediglich fünf Prozent waren. 2009 bezogen demnach 70 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland ein Einkommen unterhalb der Armutsschwelle, 25 Prozent mehr als im EU-Durchschnitt.
Zugleich ist laut Seils hierzulande auch ein stattlicher Zuwachs an atypischer Beschäftigung in Gestalt von befristeten Jobs, Leiharbeit, Teilzeitstellen und Minijobs zu verzeichnen. Dieser Boom allein reiche aber als Erklärung nicht aus. »Vielmehr beobachten wir in Deutschland eine Prekarisierung auch von Beschäftigungsformen, welche dem Normalarbeitsverhältnis zugerechnet werden«, konstatiert der Forscher. »Arbeitsarmut hat gleichsam die Breite des Arbeitsmarktes erfaßt.«
50 Stunden Arbeit für einen Hungerlohn – völlig normal für deutsche Verhältnisse
Wirtschaftsinstitut rechnet vor: Fast eine Million Menschen in Deutschland arbeiten 50 und mehr Stunden pro Woche für einen Hungerlohn. Sie arbeiten mehr als die meisten anderen, verdienen aber am wenigsten. Fast 900.000 Geringverdiener in Deutschland schuften wöchentlich 50 und mehr Stunden. Inzwischen ist das quasi schon Standart, ein Standart auf dem Rücken der Ärmsten freilich zum Wohle des Geldadels, dessen Vermögen proportional dazu steigt.
Ähnlich lange Einsatzzeiten gebe es nur noch am oberen Ende der Einkommensskala, schreibt der Ökonom Karl Brenke im aktuellen Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Betroffen seien vor allem Kraftfahrer, Lagerarbeiter und Beschäftigte im Gastgewerbe. Allerdings rechnet sich Maloche für die meisten nicht: Den Rückstand zu den Normalverdienern könnten Niedriglöhner »nur zu einem kleinen Teil durch lange Arbeitszeiten wettmachen«, konstatiert der DIW-Vorstand.
Für seine Studie »Geringe Stundenlöhne, lange Arbeitszeiten« hat der Wirtschaftsforscher Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) des DIW ausgewertet. Berücksichtigt wurden alle abhängig Beschäftigten, die sich zum Erhebungszeitpunkt nicht in Ausbildung, einem Praktikum oder einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme befanden. Als Schwelle zum Niedriglohnsektor wurde ein Bruttostundenlohn von zwei Dritteln des mittleren Lohns definiert, für das Jahr 2010 waren dies 9,25 Euro.
Von den vor zwei Jahren rund 7,3 Millionen Geringverdienern waren demnach 48 Prozent in Vollzeit tätig, 52 Prozent entfielen auf Teilzeitkräfte, »Minijobber« und andere geringfügig Beschäftigte. Von den »Arbeitnehmern« in Vollzeit kam die Hälfte auf 42 Stunden pro Woche, im Durchschnitt waren es 45 Stunden. Ein Viertel hat »üblicherweise sogar 50 und mehr Stunden« abgerissen.
Im Schnitt bringen es Geringverdiener in Vollzeit auf gerade einmal 1350 Euro brutto monatlich. Um auf ein Entgelt zwischen 1800 und 2199 Euro zu kommen, muß man sogar bis zu 55 Stunden auf der Matte stehen. Im Durchschnitt aller Werktätigen sind für dasselbe Geld knapp über 40 Stunden Arbeit vonnöten. Ein Viertel der Vollzeitkräfte mit Niedriglohn erreiche aber »nicht einmal 1200 Euro brutto«, der Nettolohn des »Quartils mit den niedrigsten Entgelten« liege bei »maximal 850 Euro«.
45 Stunden und mehr arbeiten nach den DIW-Erkenntnissen in vergleichbarer Größenordnung nur noch »Bezieher besonders hoher Einkommen«. Fälle von mehr als 50 Wochenstunden unter Normal– und Besserverdienern führt die DIW-Statistik jedoch nicht auf. Auch jene, die 6000 Euro und mehr verdienen, sind im Schnitt maximal 49 Stunden im Einsatz.
Die Studie belegt ferner: Die Leute lassen sich lieber ausbeuten und malochen bis zum Umfallen, bevor sie staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Gemäß den DIW-Zahlen bezieht nur jeder achte Niedriglöhner ergänzende Hartz-IV-Leistungen und nicht einmal jeder zwanzigste Wohngeld. Die große Mehrheit der »Aufstocker« sind Teilzeitkräfte und Minijobber. Unter den Vollzeitbeschäftigten beträgt deren Anteil dagegen nur sieben bis acht Prozent, was 230000 Betroffenen entspricht. Meist handelt es sich dabei um Menschen, die in einem größeren Haushalt leben, also Angehörige zu versorgen haben.
Jutta Krellmann von der Linksfraktion im Bundestag forderte am Dienstag mit Blick auf die DIW-Untersuchung, die »Ausbeutung in prekären Streßjobs« müsse endlich gestoppt werden. Die Regierung habe hierbei »auf ganzer Line versagt«. Erforderlich seien ein gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro, eine Begrenzung der Wochenarbeitszeit sowie eine Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor psychischen Erkrankungen.
Für eine flächendeckende Lohnuntergrenze sprach sich gestern auch die Grünen-Abgeordnete Brigitte Pothmer aus. »Niedriglöhne machen nicht nur arm, sondern auch krank«, erklärte sie und verschwieg, daß ihre Partei gemeinsam mit der SPD den Niedriglohnsektor erst zu dem gemacht hat, was er heute ist: Ein Riesengeschäft für die deutsche Wirtschaft. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach forderte auch vor dem Hintergrund der neuen Veröffentlichung einen Mindestlohn von lediglich 8,50 Euro.
Hat dies auf LichtWerg rebloggt.