»Der Trend zu mehr Armut hält an«
Bericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts über die Zunahme der arbeitenden Armen in Deutschland, November 2013
Das WSI beschäftigt sich seit seiner Gründung vor 67 Jahren mit Fragen der Lohnentwicklung und insbesondere der funktionellen und personellen Einkommensverteilung, zunächst in Einzelveröffentlichungen und seit Anfang der 1990er Jahre in Form des regelmäßigen WSI-Verteilungsberichts.
In dem nun vorliegenden 24. WSI- Verteilungsbericht widmen wir uns im ersten Teil vor allem der Frage, ob es Deutschland gelungen ist, den internationalen Trend fallender Lohnquoten und zunehmender Einkommensungleichheiten umzudrehen.
In Kapitel 1 zeigen wir die internationale Entwicklung der Lohnquoten seit 1980 und nach der Finanzkrise 2008.
Kapitel 2 macht allerdings deutlich, dass Deutschlands Umkehr hin zu steigenden Lohnquoten seit dem Jahr 2007 keine reine Erfolgsstory ist. Eine Aufschlüsselung nach Gründen für diesen Anstieg lässt erkennen, dass es sich vorläufig um ein konjunkturelles Phänomen handelt. Um diese Entwicklung zu stabilisieren, müsste es gelingen, die Lohnentwicklung mindestens auf dem Pfad der produktivitätsorientierten Reallohnentwicklung zu halten.
In Kapitel 3 analysieren wir die Entwicklung der personellen Einkommensverteilung im internationalen Vergleich und die Einkommensverteilung in Deutschland seit 1980 und nach der Finanzkrise. Auch hier zeichnet sich zunächst ein positives Bild ab: Die Ungleichheit der Einkommen scheint abgenommen zu haben, der Gini-Koeffizient, ein Maß für Ungleichheit, ist kleiner geworden. Deutschlands Einkommensverteilung hat sich aber seit der Finanzkrise verschlechtert, auch wenn der Gini-Koeffizient abgenommen hat. Wir zeigen, dass das Atkinson-Maß der Ungleichheit eine differenziertere Analyse als der Gini-Koeffizient erlaubt, weil es die unteren Randgruppen der Gesellschaft stärker gewichten kann und wohlfahrtstheoretische Betrachtungen erlaubt. Auch wenn der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit in Deutschland insgesamt misst, eine Verbesserung ausweist, lässt sich mit dem Atkinson-Maß für Deutschland belegen, dass die untersten Einkommensgruppen davon nicht oder kaum profitieren und die Polarisierung in Deutschland langfristig zunimmt.
Die Finanzkrise hat in vielen EU-Ländern nicht nur zu einer Verschlechterung der personellen Einkommensverteilung zu Marktpreisen oder der Verteilung der verfügbaren Einkommen geführt. Die Realeinkommen driften aufgrund der Unterschiedlichkeit der Inflationsraten, mit denen Arme und Reiche konfrontiert waren, noch stärker auseinander. Wie Fessler und Fritzer (2013) für Österreich zeigen, sind seit der Finanzkrise Arbeitslose, Rentner und Arbeitnehmer von steigender Inflation deutlich mehr betroffen als Bauern und Beamte. Das reale Auseinanderdriften der Einkommen wird mit einem allgemeinen Verbraucherindex deutlich unterschätzt. Eine Studie von UBS (2013) beschreibt die mit unterschiedlichen Warenkörben inflationskorrigierte Entwicklung der realen Haushaltseinkommen nach der Finanzkrise für verschiedene EU-Länder. Für Deutschland zeigt sich, dass das oberste Dezil Einkommenszuwächse erzielte, während die untersten zwei Dezile Realeinkommensverluste erlitten. Insgesamt haben sich Deutschlands Realeinkommen nach der Krise inflationsbedingt aber weniger drastisch entwickelt als etwa in den südlichen Ländern Europas, wo die untersten Dezile Realeinkommenseinbußen durch Lohnsenkungen und Inflation (Preissteigerungen vor allem bei Energie, Nahrungsmitteln und Wohnen) von insgesamt 40% hinnehmen mussten. In Deutschland sind die Realeinkommen der untersten Gruppen vor allem aufgrund von niedrigen Löhnen und nicht aufgrund von Inflation zurückgegangen.
Dass sich die Ungleichheit insgesamt in Deutschland (der Gini-Koeffizient) verbessert, die untersten Gruppen davon jedoch nicht oder kaum profitieren, wird in Kapitel 4 für Deutschland näher untersucht. Eine Analyse mit Daten des Sozioökonomischen Panels SOEP zeigt, dass die Hauptgründe für diese ungewöhnliche Entwicklung der Verlust von Einkommen der obersten Einkommensbezieher durch nachlassende Finanzerträge sowie eine Stagnation bei den untersten Einkommen sind. Die Zunahme von Leiharbeit und Minijobs als der weniger erfreuliche Teil des deutschen „Beschäftigungswunders“ sind dafür verantwortlich. Besorgniserregend für die Zukunft ist zudem, dass die untersten Einkommensgruppen immer weniger sparen (können). Damit ist auch eine private Altersvorsorge kaum möglich.
Wir verwenden für unsere Studie internationale Statistiken der OECD und der EU, Daten des Sozioökonomischen Panels sowie eine Sonderauswertung des Mikrozensus und untersuchen die Einkommensverteilung von 1991 bis 2010, in manchen Teilen bis 2012.
Bei der Verwendung von SOEP-Daten sind vor allem Interpretationen des obersten und untersten Dezils nicht unproblematisch. Es besteht ein sogenannter Mittelschichtbias, eine Verzerrung durch die Randgruppen. Dieser Bias ist auf eine Untererfassung von Einkommen an den Enden der Verteilung zurückzuführen. Dass monetäre Armut und Reichtum im SOEP unzureichend abgebildet werden, hat mehrere Gründe. Zum einen werden sehr arme bzw. sehr reiche Haushalte im SOEP generell kaum erfasst oder sind zumindest deutlich unterrepräsentiert (Obdachlose z.B. sind nicht im SOEP).
Zum zweiten gibt es Haushalte, die zwar erfasst werden, ihre Einkommens- und Vermögensangaben aber nicht hinreichend valide angeben: Das oberste Dezil vergisst häufig unsichtbare Einkommensteile wie z.B. ein Dienstauto und antwortet zögerlich auf Fragen nach dem Vermögen. In Österreich ging das Zögern sogar so weit, dass sich bei der gemeinsamen Erhebung der Notenbanken zum Haushaltsvermögen im Euroraum (dem Household Finance and Consumption Survey HFCS) praktisch niemand (!) ins oberste Dezil einordnete (s. Fessler et al. 2013). Wir geben einen methodischen Überblick über Stärken und Schwächen der SOEP-Daten und zeigen Möglichkeiten der besseren Erfassung des Einkommens und Vermögens der Reichen.
Um Fehlinterpretationen zu vermeiden, haben wir die SOEP-Daten statistisch so bearbeitet, dass die störenden Randeffekte vermindert werden. Wir verwenden 20%- und 25%-Einkommensgruppen anstelle von Dezilen. Außerdem können die SOEP- Daten, da sie Stichprobendaten und damit Zufallsdaten sind, nicht punktgenau interpretiert werden. Die Aussagekraft der Daten muss seriöserweise getestet werden. Aus diesem Grund haben wir Konfidenzintervalle gebildet und lassen in den Abbildungen die Bandbreite sehen, innerhalb der die Daten schwanken können, um doch noch statistisch signifikante Aussagen zu liefern. Es wurde oft bemerkt (vgl. Peichl et al. 2012), dass die personellen Einkommensdaten verzerrt seien, weil sie die veränderte Haushaltsstruktur nicht berücksichtigen. Der Trend zu mehr Singles, kleineren Familien, alleinerziehenden Müttern etc. würde in den Berechnungen von Ungleichheitsmaßen nicht berücksichtigt werden. Diese Gruppen könnten nicht von Skaleneffekten der Großfamilie (geringere Pro-Kopf-Kosten durch gemeinsames Heizen im Wohnraum etc.) profitieren. Die Einkommensverteilung könnte sich aufgrund dieses Strukturproblems – und nicht aufgrund geringerer Einkommen – verschlechtern (oder verbessern). Wir haben daher die SOEP-Daten auch um Strukturveränderungen bereinigt. Auffallend ist, dass dieser Faktor insbesondere bei den verfügbaren Einkommen nur vergleichsweise wenig erklärt. Da jedoch 54% der Markteinkommensungleichheit strukturell bedingt ist, lässt die vergleichsweise geringe Strukturabhängigkeit der verfügbaren Einkommen doch auf eine positive Korrektur durch die Sozialpolitik schließen.
Im abschließenden Teil analysieren wir in Kapitel 5 die Entwicklung des Einkommens der untersten Dezile, d.h. jener Gruppe, die unter 60% des Medianeinkommens liegt: die Niedriglohnbezieher und Armen. Im internationalen Vergleich hält der Trend zu mehr Armut an. Deutschland sieht sich zunehmend mit dem Problem der Working Poor konfrontiert. In Kapitel 6 stellen wir das Armutsgefährdungsrisiko nach Branchen dar. Der Verteilungsbericht zeigt auch in mehreren Fallstudien, dass Vollzeitbeschäftigte in bestimmten Berufen, mit bestimmten Familiencharakteristika in West- und in Ostdeutschland in die Armut abrutschen. Zweifelsohne ist hier die Lohnpolitik, auch in Form einer staatlichen Mindestlohnfestsetzung, gefordert. Aber es wird zugleich offensichtlich, dass dies nur ein erster Schritt sein kann.
Die vollständige Studie finden Sie hier
Hat dies auf Treue und Ehre rebloggt.